Wieder ein Romamord in Ungarn
Seit etwa einem Jahr werden in Ungarn Roma auf dem Land gezielt ermordet. Das Vorgehen ist immer ähnlich; die Opfer wohnen am Dorfrand, die Mörder kommen nachts, oft mit Molotovkocktails, und erschießen die Opfer mit Schrotflinten. Sie machen auch vor Kindern nicht halt, im Frühling wurde ein vierjähriger Junge ermordet, jetzt ist ein 13jähriges Mädchen nur knapp davongekommen. Die Behörden finden keine Täter, auch wenn die auf Hinweise ausgesetzten Belohnungen immer höher werden. Und der gesamtgesellschaftliche Aufschrei ist bislang ausgeblieben.
Mária Balogh, 45, wurde in der Nacht zum 3.8.2009 von Unbekannten in ihrem Haus im nordostungarischen Kisléta mit einer Schrotflinte erschossen.
Man kann es schon auf Deutsch nachlesen, z.B. hier, und den nächsten Tagen wird sicher viel dazu geschrieben werden; ich habe mir heute den folgenden ungarischen Artikel (aus einem Blog der Tageszeitung Népszabadság Online) ausgesucht, weil man hier von allem, was ich seither in der ungarischen Tagespresse gelesen habe, am Meisten über die Opfer erfährt, und der Tonfall des Artikels betroffen und respektvoll ist. (Wenn das nicht ganz so gut rüberkommt, liegt das an meiner Übersetzung).
Die Zigeunerjäger haben wieder gemordet: Bericht vom Tatort
Blog von erlauer, 4. August 2009, Übersetzung Pusztaranger.
Vorgestern, am Gedenktag des Roma-Holocaust, dem 65. Jahrestag der Liquidation des Zigeunerlagers von Auschwitz, kamen gegen 23.15 Uhr die 45jährige Marika, seit dreizehn Jahren verwitwet, und ihre dreizehnjährige Tochter Ketrin von einem Verwandtenbesuch nach Hause, in eine der Zigeunerstraßen am Dorfrand, (…) die Bocskai utca. Sie wussten nicht, konnten nicht ahnen, dass sich zu diesem Zeitpunkt in dem mit Büschen bestandenen Wiesengelände am Dorfrand schon die Zigeunerjäger versteckten (die mindestens zu zweit waren, vielleicht auch zu dritt.)
Wann die Mörder auf ihrer Suche nach leichter Beute auf der Wiese neben Kisléta eintrafen, weiß man nicht genau. Wahrscheinlich lange nach dem Einbruch der Dunkelheit, aber vor 23.15 Uhr, also etwa zwischen 22 und 23 Uhr. Als Marika und Ketrin nach Hause kamen, waren sie auf jeden Fall schon in dem dunklen Gebiet hinter der Zigeunerstraße, hinter den Gärten.
Hinter dem Dorf (und der Zigeunerstraße) (…) führt in etwa 100-120 Metern Entfernung ein gut in Stand gehaltener, leicht mit dem Auto befahrbarer landwirtschaftlicher Feldweg entlang, ein leichter Fluchtweg in Richtung Nyíregyháza-Nagykálló-Nyírbátor, und in Richtung Nyírbogát (Landstraße 471). Die Zigeunerjäger haben auch jetzt ihren Tatort ausgewählt wie bisher: Sie mussten nicht in das Dorf hineinfahren, um die Zigeunersiedlung zu erreichen, und konnten unbemerkt wieder verschwinden.
Eine Viertelstunde, nachdem Marika und Ketrin nach Hause gekommen waren, feuerte der eine Zigeunerjäger mit einem Jagdgewehr in das Fenster des kleineren Zimmers im hinteren Teil des Hauses, wo Ketrin das Licht anmachte, und verletzte das Mädchen lebensgefährlich.
Da relativ hoch am Fenster Einschusslöcher gefunden wurden– in 2-2,5 Metern Höhe, ist es wahrscheinlich, dass der Täter von einem Holzstapel auf dem Hof aus geschossen hat.
Es ist möglich, dass das Mädchen durch diesen Schuss noch nicht verletzt wurde, sondern von einem zweiten. Denn praktisch gleichzeitig feuerte jemand vorne zur Eingangstür herein, trat sie auf und schoss aus unmittelbarer Nähe auf Marika, die Mutter des Mädchens, die in dem anderen, größeren Zimmer zur Strasse bereits im Bett lag.
Es ist vorstellbar, dass auch Ketrin zu diesem Zeitpunkt lebensgefährlich verletzt wurde – die Zeugen reden widersprüchlich von drei oder vier Schüssen. (Die Polizei gibt keine Einzelheiten heraus, um die Ermittlungen nicht zu gefährden.)
In einem nahe gelegenen Haus in der Bocskai utca waren noch einige junge Romamänner wach, sie unterhielten sich und spielten Karten. Auch sie hörten die Schüsse, sahen auch zur Eingangstür hinaus, aber da nichts zu sehen war, gingen sie wieder zur Tagesordnung über. Sie dachten, dass der Bürgermeister – wie es schon öfter vorgekommen war – ein Feuerwerk für irgendein Familienfest veranstaltete, oder dass sich jemand in den umliegenden Straßen mit Feuerwerkskörpern amüsierte.
Die Opfer wurden gestern, Montagmorgen um 4.45 Uhr von Marikas beiden Schwestern gefunden, die auf dem Weg zur Arbeit, zur Tabakernte waren, und ihre Schwester mit dem Auto mitnehmen wollten.
Ketrin hat einen Schock erlitten, sie konnte keine Angaben über die Mörder machen. Sie sagte ihren beiden Tanten, dass der Wind das Fenster zugeschlagen hätte und sie von den Glassplittern blutig sei. (Am Montagvormittag operierte man ihr im Krankenhaus von Nyíregyháza mehrere hundert Schrotkugeln aus dem Körper, ihr Zustand ist weiterhin lebensgefährlich; man hält sie in Narkose.) Sie sagte auch, dass ihrer Mutter Marika – die bis zum Morgen verblutet war – „schwindlig geworden sei“. Ketrin weiß auch jetzt noch nicht, dass ihre Mutter gestorben ist.
(Diese Bilder sind von hier.)
Die Polizei (…) hat die eine Hälfte der Bocskai utca mehrere Stunden lang abgesperrt, die Spurensicherung und die Untersuchung des Tatortes waren erst am frühen Nachmittag abgeschlossen. Im Laufe des Vormittags wimmelte es in der Zigeunerstraße zunehmend von Journalisten, Fernsehteams und Fotografen. Der Nachrichtensender HírTV (rechter Fernsehsender, Anm.d.Ü.) kam mit einem Satelliten-Übertragungswagen und begann seine „Arbeit“ auf denkbar provokative Art und Weise: Ohne die Erlaubnis der Betroffenen einzuholen, machten sie auf der Straße Aufnahmen von den Anwohnern, und bemühten sich, die Sache so darzustellen, als ginge es hier um einen Mord aus Eifersucht. (Anmerkung des Autors: Vielleicht ist es pietätlos, das jetzt zur Sprache zu bringen, aber laut der Verwandten hatte Marika schon seit etwa anderthalb Jahren keinen Freund mehr. Es gab zwar einen Mann, der sich um sie bemühte, aber ich halte es für ausgeschlossen – und leicht zu verifizieren und zu widerlegen – dass zwei oder drei eifersüchtige Männer sie aus Eifersucht mit Schrotflinten erschossen und ihre Tochter verletzt haben sollen.)
Die Anwohner erlaubten weder ihnen noch anderen, Aufnahmen von ihnen zu machen (sie hatten und haben Angst, dass der Mörder zurückkommt und sich an ihnen rächt.)
In der Berichterstattung von HírTV wurde auch behauptet – vielleicht haben sie es seither schon wieder aus dem Netz genommen, oder werden es in Bälde tun – dass sie „mit Spitzhacken angegriffen wurden.“ Das ist jedoch eindeutig gelogen. Niemand wurde mit Spitzhacken noch sonstigen Gegenständen angegriffen, aber als die Journalisten von HírTV nicht aufhören wollten, die Anwohner ohne Erlaubnis zu filmen, wurden sie allerdings ein wenig laut– schließlich musste der Sendewagen die Straße verlassen.
(…)
Der Bürgermeister beschreibt Marika als arbeitsame Frau, die nie Sozialhilfe beantragt hat. (…) Von den Roma (…) in Kisléta kann man außerdem sagen, dass sie zum Großteil in soliden Verhältnissen leben und in durchschnittlichen, aber gesunden Häusern mit Badezimmer wohnen (ich habe zwei verkommene alte Lehmhäuser gesehen, aber das war wirklich die Ausnahme), und vom Frühling bis zum Herbst arbeiten sie allesamt in den großen, personalintensiven landwirtschaftlichen Kulturen des Dorfes im Tabakanbau. (…) Im Tagelohn verdienen sie von morgens sechs Uhr bis nachmittags um zwei Uhr 5000 Forint (etwa 18,50 EUR – Ein Stundenlohn von etwa 2,30 EUR. Das ist laut meinen Informationen durchaus üblich. Anm. d. Ü.) – die Frauen gehen dann nach Hause, um das Mittagessen zu kochen. Aber diejenigen, die bis zum Abend arbeiten – typischerweise die Männer – können am Tag auch 8000 Forint verdienen. (ca. 30 EUR, Anm. d.Ü.)
Mehrere junge Roma haben das Abitur abgelegt, andere besuchen das Gymnasium. Von den jungen Romamädchen hat eines die höhere Ausbildung als Kindergärtnerin begonnen.
Von den 1900 Bewohnern des Dorfes sind 38 % Zigeuner (in der Volkszählung waren es nur 4%, denn die Mehrzahl der hier lebenden Roma betrachtet sich als Ungarn.) In der Schule beträgt der Anteil an Romakindern etwa 50%, im Kindergarten 60%.