Demo in Budapest gegen Massenabschiebungen von Roma aus Frankreich
Der Pester Lloyd:
Gut 100 Menschenrechtler demonstrierten am Samstag vor der Französischen Botschaft in Budapest gegen die vom französischen Präsidenten angeordneten Abschiebungen von Roma aus den EU-Ländern Rumänien und Bulgarien. Sprecher, u.a. von der Menschenrechtsorganisation Amnesty International, forderten aber nicht nur die französische, sondern eindringlich auch die ungarische Regierung zu deutlichen Schritten gegen Rassismus und Hetze gegen die Romabevölkerung auf. Die staatlichen Deportationen seien ein bedrohliches Anzeichen dafür, dass der Weg zu einer allgemeinen Pogromstimmung gegen die Roma in Europa nicht mehr weit ist.
Weiterlesen hier.
Ich habe Euch die beiden Redebeiträge aus diesem Video übersetzt, von Gáspár Miklós Tamás und der Roma-Aktivistin Ágnes Daróczi.
Die 56-Jährige gehört zu einer kleinen Gruppe von Roma, die es bis in die Elite des Landes geschafft hat. Seit ihrer Jugend engagiert sie sich für die Gleichberechtigung der Roma. Eine ihrer Organisationen heißt Phralipe, Bruderschaft. (Berliner Zeitung)
Sie und ihre Organisation waren der ungarische Kooperationspartner für die internationale Aktion zum Wiederaufbau der Häuser der ermordeten Roma in Tatárszentgyörgy (siehe u.A. hier , hier und hier; hier ihr eigener Bericht über die Wiederaufbauaktion (Ungarisch).
„Heute die Zigeuner, morgen wir?“ (Bild von hier.)
Ich finde Ágnes Daróczi sehr beeindruckend, und wieder mal ist mir aufgefallen, wie selten O-Töne von Roma in den ungarischen Medien sind. Das Bild der Roma in den ungarischen Medien ist absolut fremdbestimmt, es wird meist über sie geschrieben, aber nur selten kommen sie selbst zu Wort. Umso wichtiger finde ich, daß man bei uns mehr von der Arbeit von Leuten wie Ágnes Daróczi mitbekommt, und werde in Zukunft auch mehr dazu machen.
Im Oktober kommt sie nach Regensburg, ich kann Euch ihre Veranstaltung nur ans Herz legen:
Veranstaltung mit Ágnes Daróczi am 27. 10. 2010 in Regensburg auf der Donumenta:
Mi, 27.10. | 18.00 Uhr »» WiOS, Raum 017 | Landshuter Str. 4, 93047 Regensburg
Ágnes Daróczi ist Minderheitenreferentin am Ungarischen Institut für Kultur und Kunst in Budapest (Magyar Művelődési Intézet és Képzőművészeti Lektorátus). Sie spricht über die Situation der Roma in Ungarn unter dem Titel „What remains to be done“. Von einer umfassenden und geglückten Integration der Roma in die ungarische Gesellschaft kann nach den international Aufsehen erregenden Übergriffen in den Jahren 2008 und 2009 nicht die Rede sein. Ágnes Daróczi wird die gesellschaftspolitische Situation der Roma in Ungarn beleuchten und über Anstrengungen im zivilgesellschaftlichen Bereich berichten.
Der Vortrag findet in englischer, die Diskussion in deutscher Sprache statt.
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Hier nun also die Redebeiträge aus dem Video:
(Übersetzung Pusztaranger, wie immer mit dem Disclaimer, daß ich kein Profi bin und mich gerne korrigieren lasse. Dieses Mal hat mir Blogger avenarius bei einigen Formulierungen geholfen, vielen Dank dafür.)
Ágnes Daróczi:
Liebe Freunde. Ihr, die Ihr Euch nicht zu schade wart, heute hierherzukommen und die Kraft der Solidarität zu zeigen, Ihr seid Europas lebendes Gewissen. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Das sind die drei Parolen, die aus Frankreich eine Demokratie gemacht haben. Freiheit, Gleichheit, Phralipe. Jawohl, Phralipe, Brüderlichkeit, das war unsere Parole unmittelbar nach der Wende, mit dieser Parole haben wir die erste von unten organisierte unabhängige Romaorganisation aufgebaut. Weil wir Bürger unseres Landes sein wollten. Weil wir Bürger Europas sein wollten, einfach gewöhnliche Bürger unter vielen Millionen. Aber können wir genauso sein, können wir einfach gewöhnliche Bürger unter hunderten Millionen europäischer Bürger sein? So wie es aussieht, nicht. Wir können keine gleichberechtigten ungarischen Bürger sein, denn es gibt solche, die sich erdreisten, das in Frage zu stellen. Und wie es aussieht, können wir keine europäischen Staatsbürger sein, weil es Länder gibt – und es ist eine Schande, daß ausgerechnet Frankreich dazugehört – die uns diese Gleichberechtigung verweigern. Liebe Freunde, wir sind in einer außergewöhnlich schwierigen Lage, weil wir uns in einer Wirtschaftskrise befinden. Weil sich Hunderttausende, Millionen Tag für Tag existenziellen Problemen gegenübersehen. Aber die seelische Trägheit (wörtlich: Müßiggang), die uns mitleidslos macht gegenüber Sachen, für die wir uns gemeinsam einsetzen müssten, diese seelische Trägheit ist die größte Krankheit. Daß bei uns nicht die Alarmglocken klingeln, wenn sie einen anklagen und den anderen als Sündenbock präsentieren, der für alle Probleme verantwortlich ist. Das ist der Punkt, wo die Flut losbricht, wo die Demokratie sich in ihr Gegenteil verkehrt, weil gerade das Wichtigste in Frage gestellt wird: Daß alle Bürger Europas gleich sind. Aber Frankreich hinterfragt auch, ob Zigeuner wegen ihrer Hautfarbe europäische Bürger sind, wenn es ihnen die Reisefreiheit verwehrt. Sie nehmen ihnen den Geist, der die Europäische Union begründet. Ich sage nicht, daß jeder Zigeuner nach Frankreich gehen sollte, weil das Brot dort größer ist oder jeder Kuchen abbekommt. Ich will niemanden zum Auswandern ermuntern, auch die ungarischen Zigeuner nicht, weder die rumänischen noch die bulgarischen. Ich will alle dazu aufrufen, im eigenen Land mit der eigenen Regierung zu kämpfen, wir hier mit unserer! Wir wollen hier gleichberechtigte Staatsbürger sein! Wir wollen, daß hier etwas gegen die Armut unternommen wird, wir wollen hier Arbeitsplätze haben! Jawohl, auch die bulgarischen Zigeuner wollen zu Hause eine Perspektive und annehmbare Lebensumstände (boldogulni), auch die rumänischen Zigeuner wollen das zu Hause. Und auch Ihr habt die Verantwortung, und auch Frankreich, und die anderen bürgerlichen Demokratien haben die Verantwortung, bei unseren Regierungen durchzusetzen, daß sie uns als vollwertige, gleichberechtigte Staatsbürger behandeln. (…) Auch uns steht Freiheit, Brüderlichkeit, Gleichheit zu. In diesem Sinne: Frankreich, nieder mit dem Rassismus!
Gáspár Miklós Tamás
Liebe Freunde, machen wir uns nichts vor, die Lage ist schrecklich. Es geht nicht nur um Frankreich, wo die rumänischen, bulgarischen und andere osteuropäische Roma unter Ausnutzung des existierenden Rassismus und der Existenzängste der Menschen auf niederträchtige, schändliche, höllische Art und Weise ausgewiesen werden, sondern darum, daß heute die meisten europäischen Regierungen, die meisten großen europäischen Parteien die rassistische Diskriminierung entweder aktiv vorantreiben oder feige dulden. Weil es in der Wirtschaftskrise und der wachsenden Arbeitslosigkeit nötig wird, daß die Opfer des Systems sich nicht gegen ihre Ausbeuter und die Mächtigen wenden, sondern gegen die noch ärmeren Menschen mit noch elenderen Lebensbedingungen. Die Taktik ist uralt, wir kennen sie seit Jahrhunderten, und sie ist nach wie vor äußerst effektiv. Und nach wie vor ist sie voller Haß, und äußerst langweilig. Sie haben sich nichts Neues einfallen lassen. In Rassenhaß und rassistischer Verfolgung, Diskriminierung, rassistischen Lügen sind absolut keine neuen Elemente zu sehen. Auf die schändlichste und dümmste Art und Weise wiederholt sich alles, was wir schon früher gesehen haben, mit einem einzigen Unterschied: Daß die Antirassisten weniger sind (…), daß die Kräfte der Freiheit schwächer sind, daß wir schlechter stehen als je zuvor. Man braucht keine SA und SS mehr dazu. Massenhinrichtungen und Konzentrationslager sind dafür gar nicht mehr nötig, wenn man doch in den Parlamenten in aller Ruhe genau die selben Schweinereien durchführen kann, wie es früher nur in totalen Diktaturen möglich war. Der Grund dafür, liebe Freunde, ist, daß wir schwächer sind denn je. Und zwar so lange, bis wir nicht unsere Abneigung vor politischem Engagement, vor Aktionen, vor gemeinsamem politischen Handeln besiegt haben. So lange werden diese Schweinereien in der EU und der Welt weitergehen. Die französische Regierung tut heute nichts anderes wie damals zu Kolonialzeiten und bei der Auflösung ihrer Kolonien – erinnern wir uns, daß in den 60er Jahren in Paris die Leichen der algerischen Widerständler in der Seine trieben. Damals war noch eine halbe Militärdiktatur nötig, damals war zur Einschüchterung (der Bevölkerung) die französische Armee nötig, heute ist sie das nicht mehr. Heute ist gar nichts mehr nötig. Man kann die Roma in aller Ruhe in die Flugzeuge setzen und keine Hundertausende sind dort, die das zu verhindern versuchen. Auch wir hier sind nicht so besonders zahlreich. Und das wird so bleiben, noch so lange, bis wir nicht draufkommen, daß es sich hier nicht nur um eine Menschenrechtssache handelt, sondern daß es hier um das Überleben der europäischen Gesellschaften, die Freiheit und das Wohlergehen jedes Einzelnen geht. Solange wir zulassen, daß uns das Gegenteil weisgemacht wird, solange gesagt wird, daß die Menschenrechtler im Elfenbeinturm sitzen und sie ihr Engagement für Menschenrechte nur zu ihrer eigenen Bereicherung betreiben (…), solange das als Angelegenheit einer Elite gilt und der Schutz von Freiheit und Wohlergehen Aller als Schrulle, (…) solange wird das auch so bleiben. Wir müssen kämpfen, denn sonst ist (das habe ich nicht verstanden – eventuell „végünk“ – sonst ist es unser aller Ende.) Dankeschön.
Der Beitrag beinhaltet einen interessanten Ausspruch
* Wir wollen hier gleichberechtigte Staatsbürger sein*
wie wahr…nur sollte man sich dann auch so verhalten, denn ganz grundlos ist es ja nicht zu den Ausweisungen gekommen.
Du kannst Ungarisch, nehme ich an – schau mal hier, das fand ich hilfreich, besonders die Kommentare.
http://erlauer5.nolblog.hu/archives/2010/09/05/Franciak_a_balkani_romakert/#comments
Daróczi Ágnes hat treffend darauf hingewiesen, daß es in dieser allgemein schwierigen, krisenhaften Lage, die Aufgabe der EU-Mitgliedsstaaten sei, die Heimatländer der Roma, in die sie zurückgeschickt werden, dazu aufzufordern und dabei zu unterstützen, den seit Jahrhunderten in diesem Land ansässigen Roma sämtliche staatsbürgerlichen Rechte zu gewähren.
Warum, Pusztakulancs, glaubst Du wohl, verlassen die Rom ihre Heimat? Ja – Heimat. So wie Deine, meine, unsere Heimat. Wenn nicht aufgrund einer Notlage? Wenn nicht, weil sie 65-70 Jahre nach den Nazi-Massakern, schon wieder geschaßt werden, verfemt, beschuldigt, kriminalisiert, gehaßt und verstoßen aus dem Kreis derer, die sich Menschen nennen, sich aber ihrer Menschlichkeit entledigt haben. Denn wir können nur ganz oder gar nicht Menschen sein. Nicht da etwas, dort sehr und hie überhaupt nicht. Wohin treiben wir die kriminellen Jugendlichen und ihre Cliquen, die hellhäutig, gutbürgerlich und ziellos sind? Welches Schicksal haben wir für Schwerkriminelle, Pädophile, Drogenhändler, Menschenschmuggler und all jene vorgesehen, die zur Mehrheit der Gewaltverbrecher – und nicht zur Minderheit unter den Minderheiten gehören? Na? Andenhochplateau? Sahelzone? Untergehende Archipel?
Danke Ranger, für Deinen Beitrag!
Hallo Pusztaranger
Besten Dank für die vielseitige Berichterstattung (resp. Uebersetzung) von der
Roma-Demo in Budapest. Wahre Worte von Ágnes Daróczi und Gáspár Miklós
Tamás!
Ein Hinweis auf ein Interview mit GMT (Interview zum Aufstieg der ungarischen
Rechten)
http://www.linksnet.de/de/artikel/24675