Mediengesetz: Zensiert wird im Voraus und rückwirkend
1. Januar, und schon gehts los: Als erstes ungarisches Medium hat es das alternative Tilos Rádió getroffen.
ORF: Medienbehörde statuiert Exempel
Die ungarische Medienbehörde NMHH hat die Erweiterung ihrer Befugnisse durch das neue ungarische Mediengesetz gleich am ersten Tag seiner Geltung genutzt, um ein Verfahren gegen den Budapester Privatsender Tilos Radio einzuleiten – wegen eines „jugendgefährdenden“ Rap-Textes.
Das Aufsichtsamt beanstandete am Samstag, dass der Sender den Song „It’s on“ des US-Rappers Ice-T gesendet hat. Ob und wie Tilos Radio bestraft wird, war zunächst unklar. Das ungarische Mediengesetz sieht Strafzahlungen vor, die auch für größere Medien als die kleine Liebhaber-Radiostation existenzbedrohend sein können.
Ein Opfer „zum Üben“ ausgesucht?
Der Eindruck, dass sich die NMHH zum Statuieren eines Exempels gleich zu Beginn der neuen Gesetzesära ein kleines Opfer „zum Üben“ gesucht hat, ist schwer von der Hand zu weisen. Tilos Radio ist ein nicht kommerzieller Sender, der seit 1991 mit seinem werbefreien Programm ein musikalisches Nischenprogramm fährt und stark in der ungarischen Club- und DJ-Szene verankert ist.
Es ist wohl auch kein Zufall, dass mit Tilos Radio eine bekannt „aufmüpfige“ Medienplattform die Härte des neuen Gesetzes zu spüren bekam. Warum gerade durch die Ausstrahlung des Songs – einem recht gewöhnlichen „Gangsta-Rap“ mit den üblichen Gewalt- und Sexismus-Versatzstücken, wie sie inzwischen in jedem zweiten Hitparadensong vorkommen – die ungarische Jugend gefährdet worden sei, begründete die NMHH nicht.
(…)
Ice-T staunt
Nach dem am Samstag in Kraft getretenen Mediengesetz kontrolliert die NMHH nun alle ungarischen Medien und auch den Inhalt ihrer Botschaften. Bei Verstößen gegen die äußerst vage formulierten Vorschriften im Mediengesetz drohen hohe Geldstrafen, die für manche Medien den Ruin bedeuten können. Die NMHH wird direkt von der rechtspopulistischen Regierung Ungarns kontrolliert.
Deshalb stieß das Gesetz international auf heftige Kritik. Alle ungarischen Oppositionsparteien wollen gegen das Gesetz beim Verfassungsgericht klagen. Nur wundern konnte sich der zensurierte Rapper selbst: Über den Kurznachrichtendienst Twitter vermeldete Ice-T erstaunt: „Großartig! Die Welt hat immer noch Angst vor mir. Hahaha!“
So weit weiß man es bisher, aber das ist noch nicht alles. Auf Tilos.hu kann man den Briefwechsel mit der Medienbehörde einsehen. Das Schreiben der Medienbehörde ist nicht etwa vom Samstag, sondern schon vom 13.12.2010. (Tilos vermutet, daß das mit Absicht über Weihnachten getimt wurde, wenn niemand sich groß um den Posteingang kümmert – und auf diese Art von Schreiben beträgt die Einspruchsfrist 8 Tage. Eine Mitarbeiterin hat für das Antwortschreiben ihren Weihnachtsurlaub geopfert.) Und das beanstandete Stück wurde bereits am 2. September 2010 gesendet. Das heißt, die Medienbehörde wurde hier aktiv, noch bevor das Mediengesetz überhaupt verabschiedet war, und es wird rückwirkend angewandt. Im Ausland hatte man noch gehofft, daß Staatspräsident Pál Schmitt das Gesetz nicht unterzeichnet – derweil wurde schon damit gearbeitet. Das ist hier der eigentliche Skandal.
Und dann, so einzusehen bei Tilos, bezieht die Medienbehörde sich in ihrem Schreiben bei der Beanstandung auch noch auf einen Beschluß des Hauptstädtischen Gerichts (3.K.33902/2005/7), der in der öffentlich einsehbaren Datenbank ungarischer Gerichtsurteile gar nicht zu finden ist. Die Tilos-Leute werden gut nachgeschaut haben – schließlich geht es ihnen an die Existenz.
Da braucht man sich gar nichts vorzumachen, hier geht es darum, als ersten Testballon ein unliebsames alternatives Medium abzusägen, und weitere werden folgen.
Bin mal gespannt, wann die Medienbehörde gegen die rechtsextremen ungarischen Medien aktiv wird, da hätte sie alle Hände voll zu tun – aber ich habe so das Gefühl, da können wir lange warten.
Update 4.1.11 mit Berichtigung
Die Medienbehörde hat inzwischen ein Statement zu der Sache herausgegeben (gefunden auf Tilos.hu), in dem sie darlegt, inwiefern hier von Zensur keine Rede sein kann etc. pp., und Ice-T nicht als neuer Freiheitsheld hochgespielt werden sollte, denn schließlich sei er kein neuer Kossuth Lajos. Dazu unten ein Bild.
Wichtig war mir anzumerken: Die Medienbehörde bezieht sich bei diesem Verfahren nicht etwa auf das neue Mediengesetz, sondern auf ein Gesetz von 1996. (So wie ich als Laie das begriffen habe.) Die Maßnahme gegen Tilos findet also laut der geltenden Rechtslage vor dem 1.1. statt, und somit ist nicht zutreffend, daß das neue Mediengesetz im Voraus und rückwirkend angewendet wird, wie ich das oben dargestellt habe. Sorry, da war ich wohl etwas voreilig, ich bin kein Jurist.
Ice-T freut sich, offenbar steigen die Downloadzahlen des beanstandeten Stückes in Ungarn gerade in astronomische Höhen.
Gefunden auf Facebook, Seite Egymillióan a magyar sajtószabadságért
(Eine Million für die ungarische Pressefreiheit)
Update 5.1.:
Inzwischen hat es auch den privaten Fernsehsender RTL Klub getroffen.
Marco Schicker vom Pester Lloyd im Hamburger Abendblatt: Pressefreiheit – Neues Mediengesetz macht Ungarn sprachlos
ORF: Ungarn: Verfahren gegen deutsche RTL-Tochter
Update 12.1.2011: Die Medienbehörde hat Tilos freigesprochen und das Verfahren eingestellt, so die Népszabadság heute. Dem beanstandeten Stück wird zwar jugendgefährdender Inhalt konstatiert, aber die Medienbehörde hat keinen Gesetzesverstoß feststellen können. Sie betont nochmal auf ihrem Blog, daß das Verfahren gegen Tilos nichts mit dem neuen Mediengesetz zu tun hatte, daß sie einfach auf eine Beschwerde reagieren mußten, und daß es früher bei der Vorgängerinstitution, dem Landesrat für Radio und Fernsehen ORTT, auch schon ähnliche Fälle gab.
Nun ja , es sollte aber auch erwähnt werden, dass der Sender schon mehrmals seine Lizenz entzogen bekam. und aufmüpfig?
Ich würde mal meinen in D hätten die nichtmal ne Sendelizenz bekommen.
So harmlos sind die nicht wie es immer dargestellt wird.
Komischerweise wird auch nirgendwo erwähnt , wie die „Besseren“ rumgiften“ wegen dem Mediengesetz, wieso wohl?
Boldog uj evet!
Ich bin gepannt, was erstmal durch alle Medien geistern wird, wenn demnächst die Verfassung geändert wird.
Vor einiger Zeit war ich mit dem Auto unterwegs von Budapest ins Rhein-Neckar-Gebiet, und zu der Zeit war gerade Lilly Allens „Not Fair“ der Hit im Radio. Ich war erstaunt, dass relativ harmlose Zeilen wie „wet patch in the middle of the bed“ und „giving head“ in der österreichischen und bundesdeutschen Version ausgeblendet wurden, während man sie in Ungarn täglich auf MR2 hören konnte. Ob die neute MR2-Führung soetwas wohl in Zukunft vorsorglich unterbinden wird? Sonst steht am Ende Fidesz gegen Fidesz, das kann ja nicht sein. Cee Lo Green ist auf MR2 schon von „Fuck you“ auf „Forget you“ umgestellt worden. Wir werden sehen, wie’s weitergeht. Aber die Anfänge lassen nicht hoffen, dass der Medienrat mit Augenmaß und moderat vorgehen wird.
Hier ist der offizielle Link zur offiziellen englischen Übersetzung des Mediengesetzes:
http://www.nmhh.hu/dokumentum.php?cid=25694&letolt
Wie sich jetzt herausstellt, wurden wichtige Paragraphen bei der Übersetzung ausgelassen. Man wollte die EU also wohl hinter die Fichte führen. Inzwischen hat sich die EU entschieden, auf eine eigene Übersetzung zu warten. Die Glaubwürdigkeit der Orbán-Regierung ist damit wohl hin.
Ich mache eben den Post dazu.
Wir reden hier immer nur über das neue Mediengesetz, aber im Umfeld sind auch einige andere wichtige Dinge passiert, die alle zusammen ein noch viel düsteres Bild ergeben:
Entmachtung des Verfassungsgerichts in Ungarn im Eilverfahren
http://www.pesterlloyd.net/2010_45/45verfassungsentmacht/45verfassungsentmacht.html
Sehr praktisch, wenn kein Gericht mehr prüfen kann, ob neue Gesetze der Verfassung entsprechen.
Unabhängiger Steuerrat in Ungarn vor Abschaffung
http://www.pesterlloyd.net/2010_47/47steuerrat/47steuerrat.html
http://www.pesterlloyd.net/2010_47/47waehrungsrat/47waehrungsrat.html
Auch der ungarische Währungsrat soll unter Regierungs-Kontrolle
Ungarn droht seinen Bürgern mit dem Entzug des Rentenanspruchs
http://pesterlloyd.net/2010_47/47rentenreform/47rentenreform.html
(Ist bereits in Kraft getreten)
Einschränkung des Streikrechtes im öfftl. Dienst
http://www.pesterlloyd.net/2010_51/51streikrecht/51streikrecht.html
Es liest sich gut, dass ein Minimumdienst garantiert sein soll – aber mittlerweile traue ich der Regierung nichts Gutes mehr zu…
Als nächstes kommt dann vielleicht noch die Einschränkung der Versammlungsfreiheit?!