Kultur- und Bildungsförderung gleichgeschaltet?
Derzeit konzentriert sich die Berichterstattung auf das Mediengesetz, dabei ist noch allerhand anderes los.
So soll die Struktur der staatlichen Förderung von gemeinnützigen Bildungs-, Kultur- und Sozialprojekten in Ungarn grundlegend neu gestaltet werden. Per Dekret des Vizepremiers Zsolt Semjén wurden im Januar 35 gemeinnützige Stiftungen aufgelöst.
Gegen mehr Transparenz und Effizienz bei der Verwendung von Steuergeldern kann niemand etwas haben; allesamt korrupt und ineffektiv können diese Stiftungen allerdings nicht gewesen sein – es sind zum Teil sehr renommierte Institutionen betroffen, so das Dokumentations- und Forschungsinstitut der Geschichte der Ungarischen Revolution von 1956 (1956-os Magyar Forradalom Történetének Dokumentációs és Kutatóintézete Közalapítvány) – das soll nun offenbar dem Haus des Terrors angegliedert werden – und die Gemeinnützige Stiftung für Vergleichende europäische Minderheitenforschung (Európai Összehasonlító Kisebbségkutatások Közalapítvány).
Betroffen sind zudem die wichtigsten Roma-Stiftungen, u.a. die Gandhi Stiftung, der Träger des Gandhi Gymnasiums in Pécs (siehe Tagesspiegel) sowie das erst letztes Jahr eingeweihte Hauptstädtische Roma-Bildungs- und Kulturzentrum in Budapest. (s.u.)
Eine Liste der betroffenen Stiftungen (mit den Schwerpunkten Forschung, Soziales, Kultur, Bildung und Kultur für Roma, Minderheiten in Ungarn etc.) siehe unten; auch sind alle Budapester Arthouse-Kinos bedroht (Wer sich auskennt: Das sind u.a. Mûvész, Puskin, Toldi.)
(Edit 16.1.: Offenbar haben betroffene Stiftungen von ihrer Schließung erst durch die amtliche Veröffentlichung des Dekrets erfahren, siehe Interview mit der Vorsitzenden der Ungarischen Buchstiftung.)
Es drängt sich doch der Eindruck auf, daß diese Schließungen nicht ausschließlich fachlich oder wirtschaftlich, sondern politisch motiviert sind – keine Steuergelder mehr für Institutionen, die von der Vorgängerregierung eingerichtet und/oder von ihr gefördert wurden, sowie ihr politisch suspektes Personal. Ihre Aufgaben sollen in Zukunft übernommen werden von „Non-Profit-Organisationen und öffentlichen Einrichtungen, die durch den Staatshaushalt finanziert werden.“ Und dort werden selbstverständlich nur loyale Fidesz-Leute arbeiten.
Man darf gespannt sein, wie die Aufgaben dieser Institutionen in Zukunft definiert werden, was in Zukunft als „gemeinnützig“ und somit förderungswürdig gilt – denn im völkischen Diskurs können das eigentlich nur Projekte sein, die die Werte und Interessen der „Allgemeinheit“, der „Mehrheitsgesellschaft“ fördern, und das ist mit der Förderung von „Minderheiten“ im eigenen Land eigentlich unvereinbar. Und wenn gespart werden muß, geht es wie überall zuerst an die „Luxusausgaben“ für Soziales und Minderheiten – soll doch die EU für die Roma zahlen. (s.u.)
Legitimiert wird so etwas durch das Befeuern des Diskurses vom „Parasiten am Körper der Nation“ in den regierungsnahen Medien – angegriffen werden die politischen Anwälte der Minderheiten, „Liberale“, die sich traditionell für Bürgerrechte und Zivilgesellschaft eingesetzt haben. „Liberal“ bedeutet bei den ungarischen Rechten und Rechtsextremen in diesem Zusammenhang „eine intellektuelle kosmopolitische Budapester Elite, die die staatlichen Förderstrukturen über Jahrzehnte hinweg zum eigenen Vorteil ausgebeutet, sich mißbräuchlich aus den Steuermitteln der arbeitenden magyarischen Bevölkerung bereichert hat“. Die müssen raus aus dem öffentlichen Dienst, bzw. müssen ihre Strukturen und Seilschaften zerschlagen werden. Hier wären wir wieder beim Abrechnungsbeauftragten der Regierung, der eben gegen „liberale“ Philosophen (u.a. Agnes Heller) Anzeige erstattet hat, da sie in einem „Deal“ mit dem damaligen liberalen Bildungsminister Unsummen an Fördermitteln mißbräuchlich verwendet haben sollen. Und was in den regierungsnahen Medien noch mehr oder weniger codiert daherkommt, bringen die rechtsextremen Medien umso expliziter, siehe mein Post Haltet den Dieb: Antiliberaler Antisemitismus in Aktion.
Keine Steuergelder mehr für Institutionen, die mit der Vorgängerregierung kooperiert haben – daß das keine „linksliberale Paranoia“ ist, sondern Methode hat, bekommen derzeit auch renommierte internationale Einrichtungen wie das Collegium Budapest zu spüren, siehe die Welt: Collegium Budapest – In Ungarn ist auch die Freiheit des Geistes bedroht.
Siehe auch Hungarian Spectrum: „Hungarian spring cleaning: The philosophers and all the others“
Die Mehrzahl der Ungarn ist mit harten Maßnahmen der Regierung einverstanden, solange nicht sie selbst betroffen sind, sondern andere. (Lies: „Kommunisten“ bzw. „Linke“, „Liberale“, „Juden“, „Intellektuelle“, „Zigeuner“, „Homosexuelle“). Aber die so denken, machen sich was vor, sie kommen schon auch noch dran.
*
Beispielhafte Romaförderung á la Fidesz:
Pester Lloyd: Ungarische Regierung löst Romastiftungen auf
(siehe auch dromablog: Ungarn: Regierung löst Romastiftungen auf)
Die Minderheitenselbstverwaltung der Roma in Ungarn (OCÖ) protestiert scharf gegen die von der Regierung „angestrebte Schließung (Anm: mehrerer zentraler, PL schreibt 35, das ist ein Fehler) Stiftungen“ der ethnischen Minderheit in Ungarn. (Anm.: Das Schreiben auf Ungarisch hier).
Unter den durch ein Dekret des Vizepremiers Zsolt Semjén finanziell getroffenen Vereinen und Stiftungen finden sich u.a. die „Gandhi Stiftung“, die „Ungarn für Roma Stiftung“ und weitere. Durch die Streichung bzw. Reduzierung der Finanzierung für das Gandhi Gymnasium in Pécs (Anm.: siehe Tagesspiegel) das gerne als Vorzeigeeinrichtung bei der höheren Ausbildung von Roma genannt wird, würden hunderte Schüler in ihrer Entwicklung gefährdet. Weiterhin würden durch die Beendigung von öffentlichen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen rund 114.000 Menschen betroffen sein, davon wenigstens 80.000 Roma.
(Anm.: Es gibt Dörfer in Ungarn, in denen die Gemeinde der einzige Arbeitgeber ist. Andere Arbeitsmöglichkeiten als diese gemeinnützige Arbeit zum Mindestlohn gibt es dort nicht, und Arbeit für Tagelöhner in der Landwirtschaft gibt es nicht genug und nicht ganzjährig.)
Die Romaselbstverwaltung fragt, wie diese Leute ihre Rechnungen bezahlen sollen, wenn die Regierung ihren Plan umsetzt, dass der Lohn für alle Arbeitsstunden, die über vier hinausgehen, halbiert werden sollen.
Das Dekret des Vizepremiers beinhaltet die Anweisung, daß 35 „von der Vorgängerregierung etablierte Stiftungen aufzulösen sind“. Deren Aufgaben sollen von „Non-Profit-Organisationen und öffentlichen Einrichtungen, die durch den Staatshaushalt finanziert werden“ (auf Deutsch: staatliche Behörden) „übernommen werden“. (…)
Die Schaffung einer einheitlichen europäischen Strategie für die Roma sieht die ungarische EU-Ratspräsidentschaft als eines ihrer zentralen Ziele. Premier Orbán will die komplexe Problematik auch finanziell dem Westen übergeben, da „sonst ein Exodus“ drohte.
Siehe dazu auch Pester Lloyd: Ungarn delegiert „Romaproblem“ an den Westen.
Für diese Interpretation der Lage spricht auch diese Meldung:
Hauptstädtisches Roma-Bildungs- und Kulturzentrum vor dem Aus
Erst letztes Jahr für eine Milliarde HUF errichtet, wird das Hauptstädtische Roma-Bildungs- und Kulturzentrum (Fővárosi Roma Oktatási és Kulturális Központ) dieses Jahr nur noch ein Viertel der Förderung durch die Stadt Budapest bekommen. Das für eine Milliarde HUF errichtete Zentrum existiert noch nicht einmal ein Jahr, aber soll laut Plänen der Stadt (Anm.: Neuer Fidesz-OB) dieses Jahr geschlossen werden, da die Regierung plant, lieber ein internationales Roma-Kultur- und Forschungszentrum einzurichten. In der heute verabschiedeten Budgetkonzeption steht, daß die Institution vom Budget 2011 (lediglich) 50 Mio. HUF bekommt, und das Zentrum im Lauf des Jahres zu schließen ist. Dabei existiert in Ungarn kein vergleichbares Kultur- und Bildungszentrum dieser Größenordnung, das sich ausgesprochen auf Roma konzentriert. Lajos Kathy-Horváth, der Direktor des Instituts, sagte Krónika: Es wäre eine Schande, wenn all dies in der ungarischen Ratspräsidentschaft geschlossen würde. (C-Press)
„Volkes Stimme“ faßt in Kommentaren (z.B. auf mandiner.hu) ziemlich klar zusammen, was hier passiert: Wenn schon Geld für Roma, dann doch bitte nicht vom ungarischen Steuerzahler, sondern von der EU.
Und die Stadt Budapest bekommt so eine frisch renovierte, zentral gelegene Immobilie zur anderweitigen Verwendung.
*
Betroffene Stiftungen (Quelle):
(thematisch grob sortiert, teils gibt es Überschneidungen)
Forschungseinrichtungen:
Dokumentations- und Forschungsinstitut der Geschichte der Ungarischen Revolution von 1956 (1956-os Magyar Forradalom Történetének Dokumentációs és Kutatóintézete Közalapítvány) Hat erst im Oktober 2010 einen Erasmus EuroMedia Award gewonnen. Hier ihre Facebook-Seite. Ihre Partner (Auswahl):
- Historisches Institut der Ungarischen Akademie der Wissenschaften
- Historisches Institut der Lajos Kossuth Universität (KLTE), Debrecen
- Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Eötvös Lóránd Universität (ELTE) Budapest
- Radio Free Europe Archives, Budapest,
- Historisches Institut der Central European University, Budapest,
- Institut für Moderne Geschichte Prag und Warschau
- Balkaninstitut der Russischen Akademie der Wissenschaften
- Historisches Institut, Universität Bukarest
- Freie Universität, Berlin
- Wilson Center Cold War International History Project
- National Security Archive, Washington D.C.
- Stalin Era Research and Archives Project, University of Toronto
Gemeinnützige Stiftung für Vergleichende europäische Minderheitenforschung (Európai Összehasonlító Kisebbségkutatások Közalapítvány)
Partnerinstitute:
- Institut für Minderheitenforschung, Cluj (RO) (Kisebbségkutató Intézet, Kolozsvár)
- Center for European Policy Studies (CEPS), Brüssel
- Woodrow Wilson International Center for Scholars, Washington DC
- International Centre for Geopolitical Studies (CIEG-ICGC), Geneva
- Webster University, Geneva – International relations
- Centre d’Etudes Interdisciplinaires des Faits Religieux (CEIFR), Paris
- Politique, Religion, Institutions et Sociétés: Mutations Européennes (PRISME – UMR 7012), Strasbourg
- Centre interdisciplinaire d’étude des religions et de la laïcité (CIERL), Bruxelles
- Institut européen en sciences des religions (IESR), Paris
Ferner betroffen:
Stiftung für die Erforschung der Habsburgerzeit (Habsburg-kori Kutatások Közalapítvány)
Soziales:
Gemeinnützige Stiftung für Chancengleichheit von Behinderten (Fogyatékos Személyek Esélyegyenlőségéért Közalapítvány)
Als Partner sind verlinkt:
Obdachlosenhilfe Hajléktalanokért Közalapítvány
Gemeinnützige Stiftung für die Rechte von Kranken, Pflegebedürftigen und Kindern (Betegjogi, Ellátottjogi és Gyermekjogi Közalapítvány). Als Partner angegeben sind u.A. das Staatliche Gesundheitsamt, Ministerium für nationale Ressourcen, Ungarische Gleichstellungsbehörde, Staatliche Krankenkasse OEP, Verbraucherschutzministerium. Die Webseite wurde gefördert vom Europäischen Sozialfonds.
Bildung und Kultur für Roma:
Gandhi-Stiftung (Gandhi Közalapítvány), Träger des Gandhi-Gymnasiums Pécs, ein absolutes Vorzeigeprojekt.
Stiftung für die Ungarischen Zigeuner (sic, Magyarországi Cigányokért Közalapítvány)
Kultur:
Die Ungarische Buchstiftung (Magyar Könyv Alapítvány) förderte die Übersetzung und Veröffentlichung von zeitgenössischer ungarischer Literatur im Ausland – in 15 Jahren etwa 800 Werke von 240 ungarischen AutorInnen, sowie 58 Anthologien. Die Stiftung arbeitete mit ca. 500 ausländischen Verlagen und über 300, größtenteils im Ausland lebenden Übersetzern zusammen (Quelle). Hier ein Interview mit der Vorsitzenden Dóra Káruly auf litera.hu (Ungarisch).
Magyar Nemzeti Üdülési Alapítvány
Bildung:
Internationale András Pető-Stiftung – The András Pető Institute Of Conductive Education And College For Conductor Training (Nemzetközi Pető András Közalapítvány)
(Update 19.1.: siehe dazu Blog Conductive World: What will happen to the Pető Institute now? Caught up in major political forces)
Stiftung Bildung (Oktatásért Közalapítvány)
Környezetgazdálkodási Oktatási Fejlesztésért Alapítvány (hat was mit der Entwicklung von Bildungsmaßnahmen im Bereich Wirtschaft und Umwelt zu tun)
Wirtschaftsförderung:
Stiftung Industrieentwicklung (Iparfejlesztési Közalapítvány). Partner: TÜV Rheinland
Ungarische Minderheiten in den Nachbarländern:
Stiftung Ungarische Kultur (Magyar Kultúra Alapítvány)
Ungarisches Zentrum für Menschenrechte (Emberi Jogok Magyar Központja Közalapítvány)
Stiftung Apáczai für die Bildung der Ungarn in den Nachbarländern (Határon Túli Magyar Oktatásért Apáczai Közalapítvány)
Ethnische Minderheiten in Ungarn:
Stiftung für Nationale und Ethnische Minderheiten in Ungarn (Magyarországi Nemzeti és Etnikai Kisebbségekért Közalapítvány)
Ungarische Filmgeschichte:
Filmhistorisches Fotoarchiv (Magyar Filmtörténeti Fotógyűjtemény Alapítvány)
Stiftung Historischer Ungarischer Film (Magyar Történelmi Film Közalapítvány)
Zudem sind die Budapester Arthouse Kinos in Gefahr. Die staatliche Filmförderung wird von der Regierung neu organisiert, bereits zugesagte Fördermittel werden nicht überwiesen, und den 9 betroffenen Budapester Kinos wird in den nächsten Monaten das Geld für die Betriebskosten ausgehen (Presseerklärung des Verbandes der Art Kinos auf Filmvilág.hu).
Zur Ungarischen Buchstiftung gibt´s auf LITERA ein interessantes Gespräch mit deren Vorsitzenden, Dóra Károlyi: http://www.litera.hu/hirek/a-magyar-konyv-alapitvany-megszuneserol
Es ist eine Barbarei ohnegleichen. Eine Institution, die für in- und ausländische Verlage sowie für Übersetzer von größter Wichtigkeit ist, die Kontakte in alle Welt hat, die eine professionelle, sachbezogene Arbeit macht, wird auch parteipolitischen, ideologischen Gründen quasi abgeschafft.
Man kann gar nicht so viel fressen, wie man kotzen möchte.
Danke!!
Falls jemand ähnliche Statements von anderen betroffenen Stiftungen weiß, immer her mit den Links, bau ich ein.
Heike kommentiert auf Hungarian Voice – Heike, fühlen Sie sich angefeuert. 🙂
Danke! Aber ich glaub, ich gebs auf. Perlen vor die Säue.
Es wird sehr schnell anstrengend und führt zu nichts. Aber trotzdem kann ich meinen LeserInnen nur ans Herz legen, Hungarian Voice und die Diskussionen dort parallel zu meinem Blog zu lesen, um (im Kleinen, durch den Filter von zwei Deutschen mit ungarischen Wurzeln) einen Eindruck von den beiden ungarischen Paralleluniversen („Fidesz-nah“ und „linksliberal“) zu bekommen. Wer sich dann wo wohler fühlt, bleibt ja jedem selbst überlassen.
dazu gilt es hinzuzufügen, dass inzwischen die politischen putztrupps in den ministerien bei den kleineren beamten angelangt sind. man verlangt – o-ton der fidesz politkommissare, die in den ministerien und staatssekretariaten eingesetzt wurden – eine fidesz-gewährsperson. jeder muss zumindest eine nennen können. kann er das nicht und ist mittlere führung, fliegt er auch schon. ist er kleiner, übt man sich noch großzügigerweise in „menschenwürde“. (was ja scheinbar das neue schlagwort von orbán und kumpanen ist.)
außerdem wird der email-verkehr in den ministerien, ja sogar jener im „weißen haus“, im bürogebäude des parlaments, von mehr leuten gelesen als an den er adressiert ist…
Und jetz…
http://www.conductive-world.info/2012/02/year-is-long-time-in-politics.html