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Die Phänomenologie des Geistes als Dienstgeheimnis – stalinistische Methoden an der Ungarischen Akademie der Wissenschaften

8. Juni 2011

(von PusztaLeaks; Vorgeschichte zu den Philosophenprozessen seit Januar 2011 hier auf diesem Blog.)

Kurzzusammenfassung:

  • Institutsleiter János Boros hat alle Geschehnisse am Philosophischen Forschungsinstitut der Ungarischen Akademie der Wissenschaften am 18.2.2010 per Maulkorberlass zum Dienstgeheimnis erklärt, um zu unterbinden, dass Mitarbeiter sich der Presse gegenüber äußern und vor Gericht als Zeugen aussagen.
  • Durch Boros‘ Erlass stehen die Institutsmitarbeiter unter genereller Schweigepflicht, weder gegenüber Kollegen von anderen Instituten, noch dem Philosophischen Ausschuss der Akademie, noch privat darf angesprochen werden, was am Institut geschieht. Alles ist Dienstgeheimnis, allen gegenüber. Damit wird auch verhindert, dass sich die Mitarbeiter – etwa wegen rechtswidrigen Anordnungen des Institutsleiters – an höhere Stellen um Schutz wenden.
  • Der Ombudsmann für Datenschutz hat den Erlass im Juni 2010 für verfassungswidrig erklärt, dennoch ist er nach wie vor in Kraft. Für die Institutsmitarbeiter ist es seither zu riskant, sich in den Medien zu äußern, der öffentliche Diskurs wird ausschließlich von der Sichtweise János Boros‘ und Tamás Demeters geprägt.
  • Als fachliche Publikationen bei der Evaluierung von Mitarbeitern, die zur Kündigung führten, ließ Boros nur solche gelten, die der Institutsleitung vorher zur Genehmigung vorgelegt wurden, so wie es nicht einmal vor der Wende verlangt wurde. Dabei beruft er sich auf stalinistische Relikte in der Institutsordnung, die davor nie angewandt wurden.

Eben dieser János Boros sieht es als sein Verdienst, das Institut nach zwanzig Jahren endlich von stalinistischen Altlasten befreit zu haben:

Nach der Wende war dieses Institut nicht – wie das in der DDR geschah – abgewickelt worden, und es war eigentlich klar, dass im Institut einige Mitarbeiter sind, deren Tätigkeit eigentlich überflüssig ist. (…) Man suchte nun jemand, der im Institut aufräumen und für den Anschluss an den Stand der europäischen bzw. internationalen Philosophie sorgen sollte. (…) Boros (…) verweist wiederholt auf die Abwicklung in Ostdeutschland nach der Wende: Was damals geschehen sei, habe man in Ungarn verpasst, und das müsse nun dringend nachgeholt werden.

In: Diffamierungen – Evaluierungen – Entlassungen. Ein Bericht über die Vorgänge in Ungarn. Von Peter Moser. Information Philosophie 1/2011, S. 120-126

Ein Argument, das man im Ausland offenbar unhinterfragt schluckt, wobei ausgeblendet wird, dass seit der Wende auch ehemalige Regimegegner wie Gáspár Miklós Tamás und Konservative wie C.J. Nyíri Institutsleiter waren.

Wie die Philosophenprozesse generell ist auch dieser Fall nicht nur für Philosophen interessant, er steht exemplarisch für das Klima im öffentlichen Dienst unter der Orbán-Regierung.

Vorgeschichte: Schlechte Presse für Boros’ Institut wegen antisemitischer Äußerungen und Presseklage

Auf der Weihnachtsfeier des Instituts am 21.12.2009 kam es zu einem Streit zwischen György Gábor, dem Favoriten der Mitarbeiter für den Posten des Institutsleiters, und Tamás Demeter, der für den neuen Institutsleiter Boros war. Demeter behauptete, der ehemalige Institutsleiter Borbély habe Forschungsgelder unterschlagen, worauf ihn Gábor, der an Borbélys Projekt als Teamleiter teilgenommen hatte, zur Rede stellte. Dann eskalierte die Situation, Demeter beschimpfte Gábor, verlogen zu sein – „deine Spezies ist einfach verlogen“. (Neben seiner Stelle am Institut ist György Gábor auch Professor der Jüdischen Universität Budapest.)

Als Gábor fragte, was genau er damit meine, sagte Demeter, „genau das, woran du denkst, du weißt ganz genau, wovon ich rede. (…) Deine Mischpoche ist verlogen.“ Das ist in diesem Kontext als Synonym für „deine Spezies“ – „deine jüdische Rasse“ zu verstehen, György Gábor schilderte den Vorfall später in der Népszava.

Gábor Borbély forderte Demeter über seine Anwältin auf, seine Behauptungen schriftlich zu widerrufen, weil er sonst Anzeige wegen Verleumdung erstatten würde. Dem kam Demeter im März 2010 auch nach. Er wiederum reichte gegen die Népszava wegen des Artikels eine Verleumdungsklage ein und klagte auch gegen Gábor persönlich wegen Ehrverletzung – Gábor habe ihn als Antisemiten dargestellt. (Siehe auch hier auf diesem Blog.)

Institutsleiter Boros verhängt Maulkorberlass

Am 1.Januar 2010 wurde János Boros zum neuen Institutsleiter, hier seine Publikationsliste (pdf).

Am 18.2.2010 ließ er in einem Schreiben sämtliche Vorgänge am Institut zum Dienstgeheimnis erklären. Den Institutsmitarbeitern wurde grundsätzlich verboten, sich der Presse gegenüber zu äußern – die „einseitige“ Darstellung der Demeter-Angelegenheit in den Medien habe dem Institut schon genug geschadet:

Laut Punkt 15.2 der Institutsordnung ist „jeder Beschäftigte des öffentlichen Dienstes (…) zur Geheimhaltung im Rahmen seiner Arbeit und auf anderem Wege zu seiner Kenntnis gelangter Dienst-, Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse (know-how) verpflichtet. Zeugenaussagen, Äußerungen oder die Abgabe von Expertenmeinungen jedweder Instanz gegenüber (…) sind nur nach der Entbindung von der Schweigepflicht durch den Institutsleiter erlaubt.“ Alle Vorgänge am Institut gehören in den Bereich des Dienstgeheimnisses, mit Ausnahme von Veranstaltungen, die unmissverständlich öffentlich angekündigt werden. Auch dieser Brief ist Teil des Dienstgeheimnisses. Ich weise den geehrten Kollegen darauf hin, dass die Institutsordnung für Institutsmitarbeiter als Angestellte des öffentlichen Dienstes gesetzlich verbindlich ist.

(Hervorhebungen Pusztaranger)

Der Maulkorberlass im Original, zum Vergrößern anklicken. Die gesamte Übersetzung hier als pdf.

Die Institutsordnung ist hier abrufbar (ungarisch).

Zuerst versuchten die Institutsmitarbeiter, Boros zur Rücknahme der Anordnung zu bewegen, jedoch vergeblich. Im Mai kam die Angelegenheit vor den Philosophischen Ausschuss der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, dem auch externe Wissenschaftler angehören, die weder Boros’ Maulkorberlass unterliegen noch von ihm gekündigt werden können. Boros sagte vor dem Ausschuss, er wolle den Erlass zurückziehen, tat es jedoch nicht.

Maulkorberlass soll Zeugen knebeln

Am 2.6.2010 kam Tamás Demeters Presseklage gegen die Népszava zur Verhandlung, es wurden zwei Zeugen gehört, die bei dem Vorfall am 21.12.2009 anwesend waren. Demeter forderte, zusätzlich seinen Kollegen János Laki als Zeugen anzuhören, die Verhandlung wurde zwei Wochen vertagt. Das war wohl Kalkül, denn am 10.6.2010 lief die Ausschreibungsfrist für den Posten des Vizedirektors ab, auf den Demeter sich beworben hatte. Hätte er am 2.6. verloren, wäre er dafür nicht mehr in Frage gekommen.

Am 14.6. wurde Demeter von Boros zum neuen Vizedirektor ernannt, ohne dass es von Seiten des Instituts oder gar der Ethikkommission der Akademie eine Untersuchung der Vorfälle auf der Weihnachtsfeier gegeben hätte.

Für die zweite Sitzung am 16.6. hatte die Richterin drei weitere Zeugen bestellt. Demeter machte eine Kehrtwende und ließ von seinem Anwalt einen Text einreichen: Durch den Erlass des Institutsleiters seien alle Institutsmitglieder zur Geheimhaltung verpflichtet, weshalb auch die Aussagen der beiden bereits gehörten Zeugen nicht mehr Teil des Verfahrens sein dürften.

Die Richterin entschied, die drei neu geladenen Zeugen nicht zu hören, damit sie keine Probleme am Arbeitsplatz bekommen, aber die beiden bereits Gehörten gelten zu lassen, weil der Institutsleiter nicht berechtigt sei, einen solchen Geheimhaltungserlass auszusprechen.

Demeter verlor den Prozess, und Boros suspendierte ihn von seinem neuen Posten. Letzterer blieb seither unbesetzt.

Am 28. 6. 2010 nahm Boros per Mitteilung an die Mitarbeiter die Demeter-Angelegenheit von seinem Maulkorberlass aus – Demeter ging in Berufung, und in der zweiten Instanz werden nur Verfahrensfehler verhandelt und keine Zeugen mehr angehört. Grundsätzlich blieb der Erlass weiter in Kraft.

Kurz darauf wurden der Magyar Nemzet von einem Anonymus interne Institutsunterlagen zugespielt, zu denen nur Boros und Demeter Zugang haben konnten und die Demeters „Gegner“ Borbély und György Gábor belasten sollten, gegen den Demeter den Prozess verloren hatte, siehe ausführlich hier auf diesem Blog.

Dieser Anonymus verstieß nicht nur gegen das von Boros verhängte Dienstgeheimnis, sondern auch auch gegen die Regeln der Akademie. Ob Boros zu diesem Regelverstoß eine Untersuchung durchgeführt hat, ist nicht bekannt.

Ombudsmann für Datenschutz erklärt Maulkorberlass für verfassungswidrig

István Bodnár ist Institutsleiter an der ELTE und Universitätsdozent an der Central European University. Das Institut für Philosophie an der CEU gehört zu den insgesamt drei Lehrstühlen in Ungarn, die von QS World University Rankings zu den 200 besten Universitäten der Welt gezählt werden (Origo). Die Philosophie in der CEU ist auf Platz 101-150.

Am 21.6.2010 wandte Bodnár sich an den Ombudsmann für Datenschutz András Jóri um Stellungnahme. Dieser antwortete ihm am 15.7.2010:

  • Boros ist als Institutsleiter nicht berechtigt, Informationen zum Dienstgeheimnis zu deklarieren (nincs titokminősítési jogosultsága). Zudem ist die Klassifizierung von Daten strengen formalen Regeln unterworfen. Ohne die Einhaltung dieser Regeln kommen keine klassifizierten Daten zustande. Der verhängte Erlass hat somit keine juristische Relevanz.
  • Der Erlass ist verfassungswidrig.
  • Laut Gesetz können nur Daten und Informationen klassifiziert werden, Ereignisse oder Phänomene jedoch nicht.
  • Punkt 15.2 der Institutsordnung von 2001 ist überholt und sollte geändert werden. Da die rechtlichen Kategorien Staatsgeheimnis und Dienstgeheimnis mittlerweile nicht mehr existieren, entspricht die Institutsordnung nicht mehr der aktuellen Gesetzeslage.
  • Zur Überprüfung der Frage, inwieweit Boros’ Erlass mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung zu vereinbaren ist, ist der Ombudsmann für Datenschutz nicht berechtigt (die Frage wurde ihm gar nicht gestellt).

(Volltext auf der Seite des Ombudsmanns (Ungarisch)

Es geschah nichts. Wohlgemerkt sind die Stellungnahmen des Ombudsmanns Empfehlungen und nicht rechtlich bindend.

Laut den Statuten der Ungarischen Akademie der Wissenschaften (55 § 8 ) übt der Akademiepräsident über die Institute theoretisch ein „Weisungs- und Kontrollrecht“ aus, Akademiepräsident Pálinkás könnte Boros also durchaus auf die Finger sehen, wenn er denn wollte.

Willkürliche Evaluierungen

Im Juli 2010 wurden alle Institutsmitarbeiter von Boros evaluiert, 15 von 23 Mitarbeitern qualifizierte er als “fachlich untauglich“, darunter alle fünf Zeugen des Demeter-Prozesses. Die drei „untauglichsten“ Mitarbeiter mit 13,5% waren György Gábor, Béla Mester (hier seine Publikationsliste als pdf) und János Laki (seine Publikationsliste) – also zwei Zeugen und das Opfer des Vorfalls vom 21.12.2009. Alle anderen, selbst die ohne Promotion, kamen immerhin auf über 20%. Und nicht nur das, die drei „Untauglichsten“ hatten in mehreren Bewertungskategorien null Punkte – bereits eine Null ist ein Entlassungsgrund.

Ein Hauptgrund, den Boros für die schlechten Bewertungen ins Feld führte, war das Fehlen internationaler Publikationen, auch in Fällen, wo diese dokumentiert waren – sie wurden nur nicht berücksichtigt (siehe László Tengelyi in: Diffamierungen – Evaluierungen – Entlassungen. Ein Bericht über die Vorgänge in Ungarn. Von Peter Moser. Information Philosophie 1/2011, S. 120-126).

Aufgrund dieser Evaluierungen wurden vier Mitarbeiter Ende Oktober entlassen, darunter Miklós Mesterházi und János Laki.

Gáspár Miklós Tamás, der bei der Evaluierung zwar nicht mit der Note “ausgezeichnet“, aber dennoch durchgekommen war, fragte Institutsleiter Boros, ob er ihn wirklich in Rente schicken wolle, wie man so höre. Boros bestätigte das. Nach der folgenden allgemeinen Empörung behauptete Boros, Tamás gegenüber nichts dergleichen geäußert zu haben. Im Folgenden tat er alles, um diesbezüglich keine klaren Aussagen machen zu müssen, selbst um den Preis der Lächerlichkeit. Seine Antwort auf die direkte Frage des Journalisten György Bolgár im Klubrádió, ob er Tamás in Rente schicken wolle, wurde von der Wochenzeitung Magyar Narancs in die Rubrik der witzigsten und absurdesten Auswahlzitate der Woche aufgenommen:

„Du liebe Güte, Herr Bolgár, da haben Sie mich etwas wirklich Schweres gefragt. Was in meinem Kopf vorgeht, können wir nie wissen.“ (Hú, Bolgár úr, nagyon kemény dolgot mondott. Az, hogy az én fejemben mi fordul meg, azt soha nem tudhatjuk. Das Interview bei Galamus.)

Gegen die Entlassungen protestierten im November Philosophen und Wissenschaftler aus Nachbardisziplinen; Sándor Radnóti startete eine Protestaktion im Internet, und Gáspár Miklós Tamás mobilisierte international Freunde und Kollegen. Nahezu 2000 Unterschriften wurden gesammelt, sowohl von ungarischen Akademikern, Universitätsprofessoren und Forschern als auch von bedeutenden Philosophen und Politikern aus dem Ausland.

Alle vier Entlassenen klagten gegen ihre Kündigung.

Boros ignoriert Ombudsmann für Datenschutz weiter

Noch im Januar 2011, ein halbes Jahr nach der Stellungnahme des Ombudsmanns für Datenschutz, rechtfertigte Boros in einem Blogeintrag seinen Maulkorberlass unter Berufung auf genau den Paragraphen 15.2 der Institutsordnung, der vom Ombudsmann für Datenschutz als veraltet erklärt wurde.

István Bodnár wies in einer Antwort auf demselben Blog darauf hin, dass die Institutsordnung generell veraltet ist. So muss laut Punkt 2.1.2. im „Interesse des Schutzes von Staats- und Dienstgeheimnissen“ für wissenschaftliche Publikationen sowie für Vorlesungen grundsätzlich die Erlaubnis der Institutsleitung eingeholt werden. Dieser Paragraph wurde ursprünglich im Hinblick auf verwertbare Nutzungsrechte in den Naturwissenschaften formuliert („Geschäftsgeheimnis, know-how“), im Fall eines philosophischen Forschungsinstituts ist er jedoch völliger Nonsens. Offenbar hatten die vorigen Institutsleiter (darunter auch der konservative C.J./ Kristóf Nyíri) in ihrer Amtszeit Besseres zu tun, als die veraltete Institutsordnung zu überarbeiten, aber dieser stalinistische Anachronismus störte nicht weiter, er wurde einfach nicht angewandt.

Bodnárs Hinweis wurde von Boros offenbar dankbar aufgegriffen.

Boros vor dem Arbeitsgericht: Keine Publikation ohne seine Erlaubnis

Bei den im Herbst 2010 wegen „Unfähigkeit“ entlassenen vier Mitarbeitern war für Boros ausschlaggebend, dass sie nicht genügend Publikationen vorzuweisen hätten. Mesterházi und Laki klagten dagegen vor dem Arbeitsgericht. Die Arbeitgeberseite wird von Top100-Anwalt Gábor Trinn vertreten (seine Vita siehe Gentleman.hu). Mit Berufung auf die Institutsordnung erklärte Boros im April 2011, dass als fachliche Publikation nur zähle, was mit Erlaubnis der Institutsleitung veröffentlicht worden sei:

„Laut 18.4.1-18.4.3 (der Institutsordnung) besitzt das Institut die Nutzungsrechte an den im Institut entstandenen wissenschaftlichen Arbeiten, und der Autor kann sein Werk außerhalb des Instituts (nur) mit der Erlaubnis des Institutsleiters verwerten. Punkt 18.4.3. klärt eindeutig, dass das Nutzungsrecht des Instituts sich auf jedes wissenschaftliche Werk erstreckt, das der Autor als Teil seiner Pflichten seiner Tätigkeit im öffentlichen Dienst verfasste. Daraus folgt, daß die fachlichen Leistungen des Klägers, deren Veröffentlichung nicht mit Erlaubnis des Instituts erfolgte, nicht als Arbeiten innerhalb seiner Tätigkeit im öffentlichen Dienst zu betrachten und als solche nicht zu berücksichtigen sind.“ (Hervorhebungen Pusztaranger, Quelle)

Selbst vor der Wende musste die Erlaubnis der Institutsleitung nur für ausländische Publikationen eingeholt werden. Langjährige Mitarbeiter der MTA berichten, daß sie in vierzig Jahren kein einziges Mal eine Publikationserlaubnis eingeholt hatten.
Und selbst wenn die erwähnten Passagen gelten würden, ließe sich damit lediglich ein Regelverstoß, aber noch keine Kündigung begründen. Hier handelt es sich offenbar in erster Linie um einen juristischen Winkelzug für Lakis Prozess Mitte Juni.

Zum Vergleich: In Deutschland können Wissenschaftler der Geisteswissenschaften laut Gesetz frei publizieren; für die Naturwissenschaftler gibt es seit 2002 einige Einschränkungen, die aber nicht die Publikationen in wissenschaftlichen Zeitschriften betreffen.

(Siehe z.B. R. Kraßer, „Die neuen Vorschriften über Hochschulerfindungen“, Dr. Till Kreutzer: „Wandel im wissenschaftlichen Publikationswesen – Open-Access vers. Wissenschaftsverlag“ von Büro für informationsrechtliche Expertise (www.ie-online.de)

Zum Schluß soll János Boros, der seinem Institut nach zwanzig Jahren endlich die Wende gebracht hat, selbst zu Wort kommen:

Wie György Konrád es noch vor der Wende formulierte: Während im Kommunismus die Länder mit Stacheldraht eingezäunt wurden und es im Land keine Freiheit gab, jedoch große Freiheit am Arbeitsplatz, sind im Westen die Länder nicht eingezäunt, aber die Arbeitsplätze mit Stacheldraht umgeben, und dort drinnen, an den Stätten der Produktion, existiert die Freiheit des Individuums nicht. (János Boros: Die Anthropologie der Demokratie. Verlag Jelenkor, Pécs, 2009, S. 65. Übersetzung Pusztaranger)

Ausblick fürs Institut: Umstrukturierung, weitere Entlassungen

Auf der Generalversammlung der Akademie am 2./ 3. Mai 2011 ließ Akademiepräsident Pálinkás sich konkurrenzlos im Amt bestätigen und verkündete anschließend, dass die Forschungsinstitute bis Ende des Jahres „umstrukturiert“ würden. Er stellte die Akademie vor vollendete Tatsachen, mit der Regierung und einigen Abgeordneten sind bereits endgültige Vereinbarungen getroffen. Dafür hat Viktor Orbán ihm bei einem Besuch höchst persönlich 5 Milliarden HUF in Aussicht gestellt.

Mit der Umstrukturierung soll eine Milliarde Forint eingespart werden, die Mittel bleiben bei der Akademie und sollen für andere Präferenzen verwendet werden. Pálinkás’ Präferenzen sind eindeutig die Naturwissenschaften.

„Umstrukturierung“ ist ein rechtmäßiger Entlassungsgrund, so müssen keine „Evaluierungen“ mehr vorgeschoben werden.

Ob auch János Boros ihr zum Opfer fällt, ist noch eine offene Frage. Dies wäre jedenfalls ein herber Verlust für C.J. Nyíri, den Chefideologen der völkischen Wende in Ungarn, der Boros ins Amt gehievt haben soll. (Mehr zu ihm hier auf diesem Blog. )

Ausblick 2012: Neue Verfassung schränkt Freiheit der Lehre ein

2012 tritt die neue Verfassung in Kraft. Für die Wissenschaft gibt es relevante Änderungen. In der EU und in Deutschland fällt die Freiheit von Kunst und Wissenschaft unter die Grundrechte. In der Verfassung der BRD ist die Freiheit der Lehre an Verfassungstreue gebunden. (Die Textbelege zu diesem Abschnitt hier als pdf.) In Ungarn war es bisher ähnlich, die Freiheit der Kunst und Wissenschaft fiel unter die Grundrechte, und es gab keine Einschränkungen. In der alten Verfassung hieß es,

die Republik Ungarn respektiert und unterstützt die Freiheit des wissenschaftlichen und künstlerischen Lebens, die freie Forschung und Lehre. (Absatz XII 70G § (1)

Laut der neuen, ab 1.1.2012 gültigen Verfassung gehört die Freiheit der Kunst und Wissenschaft nicht mehr zu den Grundrechten, sie fällt auch nicht unter das Kapitel 9, “Grundlagen”, sondern unter das Kapitel 12, “Freiheit und Verantwortung”. Dort heißt es,

(1) Ungarn gewährleistet die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung und künstlerischen Schöpfung, des weiteren – im Interesse des qualitativ hochwertigsten Wissenserwerbs – die Freiheit des Studiums, sowie im gesetzlich festgelegten Rahmen die Freiheit der Lehre.

(Hervorhebung Pusztaranger, Textbelege hier als pdf.)

Die Freiheit der Lehre wird im Interesse der „Qualitätssicherung” durch Gesetze eingeschränkt, deren Inhalte bislang nicht bekannt sind. Mit dieser Verfassung hat die ungarische Regierung sich einen Freibrief ausgestellt, die Freiheit der Lehre per Gesetzeserlaß nach Belieben einzuschränken.

Neue Verfassung schafft Ombudsmann für Datenschutz ab

István Bodnár konnte sich 2010 noch wie jeder ungarische Bürger an den Ombudsmann für Datenschutz wenden, ab nächstes Jahr erlischt diese Möglichkeit. Ab dem 1. Januar 2012 gibt es für Datenschutz (und auch Minderheiten) keine eigenen Ombudsleute mehr, sondern nun noch einen Stellvertreter in einer Regierungs-Ombudsstelle.

Aus dem Ombudsmann für Datenschutz wird eine unabhängige Behörde, genauso unabhängig wie der Amtssitz von Staatspräsident Pál Schmitt, Annamária Szalais Medienbehörde, der Rechnungshof unter László Domokos, die Staatsanwaltschaft unter Péter Polt etc. Eine unabhängige Behörde wird in Orbánland genannt, was der Regierung dient, wenn Viktor Orbán die Regierung führt, und der Opposition, wenn Viktor Orbán Oppositionsführer ist. (…) Zweifellos dürfte es in der Opposition dann auch dazu kommen, dass die unabhängige Behörde wirklich auch etwas zum Schutz der Informationsrechte tut. (Népszabadság)

Die ungarische Regierung verschickte derzeit im Rahmen ihrer „Nationalen Konsultation“wieder Fragebögen an alle acht Millionen Wahlberechtigten, um die Gesetze der „Zweidrittel-Mehrheit“ mit dem „Volkswillen“ zu legitimieren. Jeder Fragebogen der aktuellen Bürgerbefragung zu sozialen Fragen (s. z.B. Pester Lloyd, Hungarian Spectrum) enthält einen Barcode mit individuellen Personendaten des ausfüllenden Bürgers, so dass auch erfaßt werden kann, wer die Fragebögen nicht zurückgeschickt hat.

Der Ombudsmann für Datenschutz hat auch die Aufgabe, die Persönlichkeitsrechte und Privatsphäre der Bürger zu schützen; am 7. Juni 2011 hat er diese Fragebögen für gesetzwidrig erklärt (168ora, Index, Stellungnahme des Ombudsmanns).

Laut Regierungssprecher Szíjjártó ist Jóris Stellungnahme von persönlichen Karriereinteressen motiviert; er hätte Angst um seine Zukunft, weil sein Amt verschwinden werde. Man werde seine Stellungnahme entsprechend behandeln. Siehe auch Pester Lloyd vom 8.6.2011.

*

Update 26.8.2011: Heute wurde dieser Post von Information Philosophie verlinkt.

One Comment leave one →
  1. 16. Juni 2011 14:23

    Sehr beeindruckend. Was nicht alles möglich ist, wenn man skrupellos und in einer Machtposition ist, und die „höchsten Stellen“ hinter sich weiß. Ich glaube, die Faktoren Skrupellosigkeit, Machtvergottung und Hierarchieabhängigkeit zählen zu den Kennzeichen des Totalitarismus.

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