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Ungarns “Öffnung nach Osten”: Irans neues Tor zur EU

4. November 2011

Ungarn und der Iran bauen ihre Wirtschaftskontakte aus. In diesem Sinne verständigten sich der ungarische Außenminister Mártonyi und der iranische Vize-Außenminister für Europa Ali Ahani bei seinem Besuch in Budapest vor einem Jahr.

2010 wurde im ungarischen Parlament ein Ausschuss zur „Ungarisch-iranischen Freundschaft“ eingerichtet und Ungarn und der Iran gaben eine gemeinsame Briefmarke heraus. (Details s.u.)

Im Oktober 2011 bekräftigte Gyula Pethő, der neue ungarische Botschafter in Teheran, die Pläne der ungarischen Regierung, die Beziehungen zum Iran auszubauen, „in jedem Bereich, der nicht von Sanktionen der EU und der UN betroffen ist“, so auch die Wirtschaftsbeziehungen. Auf  iranische Einladung hin hatte sich eine Delegation der Ungarischen Industrie- und Handelskammer auf einem mehrtätigen Besuch im Iran aufgehalten und mit potentiellen Partnern verhandelt. (MTI/Népszava)

Laut der iranischen Nachrichtenagentur liegt Ungarn in einer strategisch wichtigen Region und könne „Iran den Weg in Richtung Mittel- und Osteuropa öffnen.“ Im Gegenzug könne der Iran Ungarn den Zugang zu den Märkten am Golf und Asiens erschließen sowie Ungarns wachsenden Energiebedarf durch seine Öl- und Gasreserven bedienen. (hvg)

Der iranische Botschafter in Ungarn besuchte dieses Jahr mehrfach Komitatshauptstädte auf Einladung ihrer Fidesz-Bürgermeister und verhandelte mit Vertretern der Industrie- und Handelskammern der Komitate über Kooperationsmöglichkeiten. (Details s.u.)

Im Oktober reiste eine 23-köpfige iranische Delegation für fünf Tage nach Ungarn und verhandelte dort unter anderem mit dem Landwirtschafts- und Naturschutzministerium (sic), dem Staatssekretär des Handelsministeriums sowie dem Ingenieursverband. (Details s.u.)

Von all dem war in den ungarischen Mainstreammedien nur wenig zu erfahren; umso mehr findet sich bei den rechtsextremen Medien.

Jobbik und der Iran: Städtepartnerschaft Tiszavasvári – Ardabil

Im Oktober wurde zwischen der Jobbik-Hochburg Tiszavasvári und dem iranischen Ardabil eine Städtepartnerschaft geschlossen. Dies ist (nach Jászbérény – Yazd, 1996) Ungarns zweite Städtepartnerschaft mit dem Iran. Sie kam durch Betreiben von Jobbik und die Vermittlung des iranischen Botschafters in Ungarn zustande.

Feierliche Enthüllung durch den iranischen Botschafter: „Tiszavasvári ist Partnerstadt von Aldabil im Iran.“ (Bild: hetek.hu)


Zwei Sprachen, drei Alphabete: Völkische Széklerrunen, die Schrift des „geeinten Karpatenbeckens“ (Großungarn. Bild: rovas.info)


Die iranische Delegation im ungarischen Parlament, mit dem Jobbik-Vizefraktionsvorsitzendem Márton Gyöngyösi. (Zum Vergrößern anklicken.)

Jobbik strebt Kooperationen mit Ländern an, die als „Brudervölker der Magyaren“ gelten, so auch der Türkei und Kasachstan. Mit Aldabil hat der Jobbik-dominierte Gemeinderat von Tiszavasvári in diesem Jahr nach Yichun/China und Osmaniye/Türkei bereits die dritte Städtepartnerschaft geschlossen. Der Westen, so ein Jobbik-Sprecher, habe Ungarn zugrundegerichtet; von dieser „Öffnung nach Osten“ verspricht man sich Schutz vor „wirtschaftlichen Aggressoren“.

Die iranische Delegation besuchte auch Gyöngyöspata. Jobbik-Bürgermeister Oszkár Juhász erklärte in den staatlichen Fernsehnachrichten, dass ihnen so viel an den Iranern gelegen sei, weil sie im Gegensatz zu anderen (lies: Israel) Ungarn nicht kolonisieren wollten:

„Wir wollen unsere natürlichen Ressourcen wie unser Trinkwasser und unseren Ackerboden nicht in fremde Hände (lies: Israel) geben, und der Iran ist ein Brudervolk, denn sie stammen aus dem Land der Arier, so wie auch die Jassen

(Anm.: Das indo-iranische Reitervolk der Jassen/Jazygen (Jász), das sich laut gängiger Auffassung im 13. Jahrundert in Ungarn angesiedelt hat, siehe wiki)

(…), sie betrachten uns als Verwandte, als Brüder (testvér), und Ungarn nicht als zu eroberndes Gebiet.“ (lies: Anders als Israel.) (hirado.hu, Video ab 1:18)

(Update 10.11.2011: Juhász hat die iranische Flagge auf seinem Schreibtisch stehen:

(Screenshot aus dem Bericht von tsr.ch vom 5.11.2011)

Der Zeitschrift Hetek gegenüber erklärte ein Jobbik-Sprecher, daß der gemeinsame Antizionismus ihre Zusammenarbeit mit der iranischen Delegation befördere. (hetek.hu)

Die Kontakte zwischen ungarischen und iranischen Unternehmen werden von der  „Hungarian Iranian Friendship of Commerce“  in Budapest vermittelt, die vom iranischen Botschafter unterstützt wird. Laut ihrer Webseite besteht ihre Mission darin,

to help companies develop commercial relationships between Iran and Hungary. Both countries are very dynamic and offer excellent business opportunities. Hungary is a member of the European Union and centrally located with historical access to new markets in Eastern and Central Europe.

Der Vorsitzende der Organisation ist der iranische Zahnarzt und Unternehmer Dr. Ali H. Jahromi, der für Jobbik als Berater und für die iranische Delegation als Dolmetscher fungierte. Er betreibt persische Restaurants in Budapest und Wien (Shiraz). Laut Jahromi seien

„Besitzer von großen Fabriken, internationale Geschäftsmänner (nach Tiszavasvári) gekommen, sie sehen langfristig sehr positive Möglichkeiten in Ungarn, das ein Tor zu den übrigen EU-Ländern werden kann. Wenn sie hier Fabriken bauen, könnten sie die Produkte von hier aus nach ganz Europa exportieren.“ (hetek.hu, 28.10.2011)

Vizevorsitzender der Organisation ist der Jobbik-Vizefaktionsvorsitzende Márton Gyöngyösi. Die Kontakte vieler ungarischer Unternehmen zum Iran dürften somit über Jobbik laufen.

Die ungarische Regierung und der Iran

In den regierungsnahen und auch anderen Medien wird es tendenziell so dargestellt, als sei lediglich Jobbik an Wirtschaftskontakten zum Iran interessiert (siehe z.B. Hirado, 4.9.2011). Allerdings ist die ungarische Regierung genauso darum bemüht. Die ungarisch-iranischen Wirtschaftsbeziehungen seien „katastrophal“, zitiert das Wirtschaftsportal Világgazdaság Ferenc Miklóssy, den Vizevorsitzenden der Ungarischen Industrie- und Handelskammer. Während der Iran in den 1980ern jährlich ungarische Agrarprodukte im Wert von 400 Mio. Dollar importierte, sind es heute nur noch 10-15 Mio. Euro. (vg)

2010 wurde im ungarischen Parlament eigens ein „Ausschuss für ungarisch-iranische Freundschaft“ eingerichtet, und vor einem Jahr kam der iranische Vize-Außenminister Ali Ahani auf Einladung der ungarischen Regierung für Verhandlungen nach Budapest, siehe Hungarian Spectrum: Hungary’s relation to Iran: A new chapter? 18.11. 2010; MTI, MNO.

Zu diesem Anlass wurde von Ungarn und dem Iran eine gemeinsame Briefmarke herausgegeben, deren Gestaltung die erwähnten historischen „Verwandtschaftsbeziehungen“ der beiden Völker zitiert (siehe detaillierter deutscher Text auf philatelia.hu.)

Iranischer Botschafter sucht Wirtschaftskontakte auf Komitatsebene

Seit Januar 2011 besucht der iranische Botschafter auf Einladung der Fidesz-Bürgermeister   ungarische Komitatshauptstädte und knüpft Kontakte mit den Industrie-und Handelskammern sowie staatlichen Unternehmen und Bildungseinrichtungen. Davon ist allerdings nur in den jeweiligen Regional- und Lokalmedien zu erfahren.

Im Januar besuchte er Győr, Komitat Győr-Moson-Sopron (Quelle: Kisalföld.hu; Video) und sah dort Kooperationschancen mit der Automobilindustrie.

Im Mai besuchte er Békéscsaba, Komitat Békés, wo er Kooperationspotential in Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie sah. Außerdem besuchte er dort die Wirtschaftsfakultät der Szent István-Universität und verhandelte mit dem Vizedekan über Kooperationsmöglichkeiten. (bekescsaba.hu)

Die im Oktober angereiste iranische Delegation weilte auf Einladung des Fidesz-Bürgermeisters von Gyöngyös auch im Komitat Heves. Kooperationsmöglichkeiten wurden hier in der Lebensmittelindustrie, im Maschinenbau und in der Bildung ausgemacht. (heol.hu).

Für Ende November ist ein Besuch des iranischen Botschafters mit einer Delegation in Nyíregyháza, Komitat Szabolcs-Szatmár-Bereg geplant; hier soll der Schwerpunkt auf der Lebensmittelindustrie liegen, das Portal der Lebensmittelindustrie sucht interessierte Unternehmer. (elelmiszer.hu)

Absprachen auf Ministeriumsebene

In Budapest wurde für die iranische Delegation eine Konferenz mit Vertretern von Stadt, Komitaten und Wirtschaftspartnern ausgerichtet. Laut Ferenc Miklóssy, dem Vizevorsitzenden der Ungarischen Industrie- und Handelskammer, wurden Absprachen in den Bereichen Landwirtschaft, Textilindustrie, Maschinenbau, Gesundheits- und Bildungssektor getroffen (megállapodások formálódtak). Außerdem habe der iranische Staat Interesse geäußert, ungarische Busse zu kaufen. (Világgazdaság hier und hier)

Bei den Gesprächen sechs ungarischer Firmen  und fast fünfzig (sic) iranischer Partner sowie den Besprechungen im Landwirtschafts- und Naturschutzministerium (sic), mit dem Staatssekretär des Handelsministeriums sowie dem Ingenieursverband kamen ausschließlich Themen auf den Tisch, auf die sich das wegen seiner nuklearen Entwicklung über den persischen Staat verhängte Embargo nicht bezieht, heißt es bei  Világgazdaság. Jedoch könne die Situation sich ändern.
Die Iraner zeigten ernstes Interesse an konkreten Produkten und Unternehmen, unter anderem Mirim Fertigbau Győr, Kränen von Ganz, Solartechnologie zur Beheizung von Gewächshäusern von Hajudsági Iparművek und Produkten für Veterinärmedizin von Dispomedicor Debrecen. Hier war vom Bau einer gemeinsame Fabrik die Rede.

„Es wird viel Zeit in Anspruch nehmen, die aufgezählten Projekte unter Dach und Fach zu bringen, aber wir müssen uns daran machen, um bis zur – hoffentlich möglichst bald erfolgenden – Aufhebung des Embargos fertig zu sein“, so Ferenc Miklóssy, der wieder betonte, daß die Projekte sich sowieso auf Bereiche beziehen, die nicht vom Embargo betroffen sind.

Vertreter von Fidesz- und Jobbik mit der iranischen Delegation:


Fidesz-Oberbürgermeister István Tarlós auf Jobbiks Budapester Veranstaltung für die iranische Delegation, hinter ihm der Jobbik-Abgeordnete Gábor Staudt. Laut Jobbik-naher Medien fand die Veranstaltung im „Tempel der Heimkehr“, der Kirche des antisemitischen reformierten Jobbik-Pastors Lóránt Hegedûs Jr. statt, der auch eine Begrüßungsansprache hielt.

Offenbar herrscht hier Nachrichtensperre, Fotos und Informationen zu Tarlós‘ Anwesenheit waren bislang ausschließlich auf den Jobbik-nahen Portalen zu finden. (Ausnahme: Hetek.hu)

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Daß das alles ganz ohne Wissen der EU oder der deutschen Regierung stattfindet, kann man sich kaum noch vorstellen. Offenbar kommt Ungarns Brückenfunktion zu wirtschaftskräftigen Diktaturen auch der EU entgegen.

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