Ungarische Medienbehörde ignoriert geltendes Mediengesetz? Beschwerdeaktion
Die Vorgeschichte
Am 10.3.2011 wurde im EU-Parlament über das ungarische Mediengesetz abgestimmt. Daniel Cohn-Bendit kritisierte es scharf. Darauf wurde er vom öffentlich-rechtlichen ungarischen Radio und Fernsehen sowie der regierungsnahen Presse systematisch als „Pädophiler“ vorgeführt.
Die Geschichte hatte Vorlauf. Bei Viktor Orbáns Antrittsrede im EU-Parlament im Januar sagte Daniel Cohn-Bendit bekanntlich, Orban sei „auf dem Weg, ein europäischer Chavez zu werden, ein Nationalpopulist, der das Wesen und die Struktur der Demokratie nicht versteht“. (Video)
Seither schossen sich die rechtsextremen ungarischen Medien auf ihn ein. So veröffentlichte Magyar Fórum, das Blatt des kürzlich vom Budapester Oberbürgermeister zum Theaterintendanten ernannten Rechtsextremen István Csurka (mehr dazu hier), ihn mit Davidstern auf dem Titel („liebt nicht nur Kinder, sondern auch Israel“), siehe mein Post.
Seit dem 10.3.2011 wurde Cohn-Bendit dann auch vom öffentlich-rechtlichen ungarischen Radio und Fernsehen sowie der regierungsnahen Presse systematisch als „Pädophiler“ vorgeführt („Mittagschronik“, Kossuth Rádió, und Abendnachrichten M1, 11.3.; Magyar Nemzet, 12.3/22.3*.; Magyar Nemzet, 18.3.; Magyar Nemzet, 21.3.; ein Ausschnitt dieses Artikels wurde auch auf der Parteiseite von Fidesz eingestellt; HírTV*, 1.4., siehe mein Post).
(*Magyar Nemzet und HírTV haben seither ihre Internetauftritte geändert und zusammengelegt, es sind Links verschwunden und Inhalte haben sich verändert.)
Manipulierter Beitrag im öffentlich-rechtlichen Fernsehen
Es wurde ein Journalist gesucht, um das Thema auch im ungarischen Fernsehen MTV zu lancieren; der damalige leitende Auslandsredakteur Gábor Kiss weigerte sich. Darauf wurde der junge Redakteur Daniel Papp von MTV zur Pressekonferenz mit Cohn-Bendit geschickt. Papp fragte nach der Pädophilie-Geschichte und schnitt das Interview später so, als ob Cohn-Bendit ohne zu antworten den Raum verlassen hätte. (M1, 1.4.2011) In der Realität aber stellte sich Cohn-Bendit (hier der Originalmitschnitt der Pressekonferenz). (NDR/Zapp)
(Bild: Népszava.com)
Kurz darauf wurde Papp zum Chef der neuen zentralen Nachrichtenredaktion befördert, die die Nachrichten für alle öffentlich-rechtlichen Sender produziert. Ein Interview dazu gab er nicht.
Bis vor einigen Jahren war Papp medienpolitischer Sprecher der rechtsextremen Partei Jobbik und machte sich einen Namen im rechtsextremen Echo TV, bevor er einige Fidesz-Politiker auf ihre Medienauftritte vorbereitete. (Berliner Zeitung)
Offenbar empfängt Papp Direktiven von der Regierung, vorgefertigte Moderationstexte aus den Leitungsgremien des Staatsapparates (Blog Stargarten).
Er war auch für die Massenentlassungen in den öffentlich-rechtlichen Medien zuständig, unter anderem entließ er Gábor Kiss.
Im September wurde Papp dann erneut befördert. Seither ist er zusätzlich zu seinem bisherigen Posten auch Chefredakteur für gesellschaftspolitische Sendungen (Index).
Medienbehörde ignoriert Beschwerden
Papps manipulierter Beitrag verstößt gegen das geltende Mediengesetz der Orbán-Regierung, es wäre Aufgabe der Medienbehörde NMHH, die Angelegenheit zu untersuchen und Sanktionen zu verhängen. Doch die sieht keinen Handlungsbedarf; Beschwerden ungarischer Journalisten wurden bislang ignoriert.
Wie die Tage beim Theaterskandal zu sehen war, können internationaler Druck und internationale Öffentlichkeit durchaus etwas bewirken.
Beschwerdeaktion
Hier ein Musterbrief* auf Ungarisch und Deutsch, der ausgedruckt und an die Ungarische Medienbehörde geschickt werden kann:
In der ungarischen und deutschen Version jeweils in der ersten Zeile Name und Adresse einsetzen und unterschreiben.
Dokumentation: Material für kritische ungarische Medien
(Edit 13.11.)
Die Dokumentation ist genauso wichtig wie die Beschwerde. Es geht darum, herauszufinden:
- Antwortet die Medienbehörde?
- Wie lange braucht sie dazu?
- Wird auf die Beschwerde eingegangen? Welche Konsequenzen werden angekündigt?
- Wird die Beschwerde zurückgewiesen, und mit welcher Begründung?
Den Brief ausfüllen, unterschreiben und per Einschreiben, noch besser Einschreiben mit Rückschein schicken. Den Einlieferungsbeleg bzw. Rückschein (Datum der Zustellung, Name der entgegennehmenden Person) und später das Antwortschreiben der Medienbehörde an Beschwerdeaktionnmhh[at]googlemail[punkt]com schicken, sie werden dann anonymisiert auf diesem Blog eingestellt. Wer möchte, schwärze seine sensiblen Daten selbst.
(Update 16.12.: Von unseren sechs Briefen sind alle angekommen; außerdem der von Blog Stargarten, der sich an dieser Initiative beteiligt hat.)
(Update 24.1.2012: Hier die Antwort: Medienrat weist Beschwerde wegen Nachrichtenfälschung ab: „Öffentliches Interesse nicht geschädigt“.)
Musterbrief (Deutsche Version):
Nationale Ungarische Medienbehörde
Nemzeti Média- és Hírközlési Hatóság
H-1525 Budapest, Pf 75
Fax: (+36 1) 356 5520
info@nmhh.huSehr geehrte Damen und Herren,
hiermit wende ich [Name und Adresse einfügen] mich mit einer Beschwerde an die ungarische Medienbehörde NMHH und fordere sie auf, den in den Nachrichten des Ungarischen Fernsehens am 1. April 2011 gesendeten Bericht von Dániel Papp zu untersuchen und seinen Urheber zur Verantwortung zu ziehen, weil der ausgestrahlte Bericht in mehrerer Hinsicht das geltende Mediengesetz verletzt.
Das Gesetz CIV/2010 zur Pressefreiheit und den grundsätzlichen Regelungen der Medieninhalte enthält zahlreiche Bestimmungen zur wahrheitsgetreuen und aktuellen Berichterstattung, sowie dazu, dass bei der Redaktion von Inhalten die Menschenwürde gewahrt werden muss. (Gesetz CIV/2010, § 13 (1) zur wahrheitsgetreuen Berichterstattung, § 13 (2) über korrekte, sachliche und ausgewogene Berichterstattung, § 14 (1) über die Wahrung der Menschenwürde. (Quelle: nmhh.hu)
Der Bericht von Redakteur Dániel Papp entspricht diesen Vorschriften in mehrerer Hinsicht nicht. Dániel Papp behauptet in seinem Kommentar, daß Daniel Cohn-Bendit eine ihm gestellte Frage nicht beantwortet habe. Das entspricht nicht den Tatsachen, seine Antwort ist im Original beim Portal Index zu sehen.
Daniel Papp behauptet, dass Cohn-Bendit wegen der „peinlichen“ Frage den Raum verlassen habe, und belegt dies scheinbar mit von ihm falsch zusammengeschnittenem Filmmaterial.
Dániel Papps Bericht ist weder korrekt noch sachlich. Mit der Wiederholung der Sendung hat das Ungarische Fernsehen MTV diesen Verstoß gegen geltendes Recht mehrfach begangen.
In ihren bisherigen Verlautbarungen behauptet die Presseabteilung der Medienbehörde, daß die NMHH den gefälschten Bericht nicht untersuchen könne, weil ihr kein schriftlicher Antrag in Papierform vorliege.
Auch dies entspricht nicht den Tatsachen; es wurden bereits mehrfach Beschwerden eingereicht, einige davon sind im Volltext im Internet zu finden (hier, hier, hier und hier).
Der sogenannte Bericht von Daniel Papp ist eine gemeine Fälschung, eines Journalisten nicht würdig, aus der sich bisher keine Konsequenzen ergeben haben. Mit diesem Schreiben ersuche ich die ungarische Medienbehörde NMHH als zuständige Behörde, den von Dániel Papp gefälschten Bericht von Amts wegen zu untersuchen.
Datum, Unterschrift:
*) Pusztaranger dankt dem Musterbriefkollektiv.
Links zur Affäre Papp:
Pusztaranger: Orbán-Medien: „Daniel Cohn-Bendit ist pädophil“, 1. April 2011
Blog Stargarten: Nachrichtenfälscher wird Nachrichtenchef, 22.4.2011
Pusztaranger: Viktor Orbáns Propagandaapparat, 15.5.2011
Süddeutsche: Muskelspiele an der Donau, 15.5.2011
Berliner Zeitung: Blaue Briefe für Journalisten- Ungarns Regierung setzt Massenentlassungen in öffentlich-rechtlichen Medien durch, 13.7.2011
Spiegel: Pressefreiheit in Ungarn – Premier startet neue Offensive gegen Journalisten, 14.7.2011
Pusztaranger: Massenentlassungen: Beförderung für politisch motivierte Nachrichtenmanipulation, 15.7.2011
Zeit: Bleiben dürfen nur die Braven, 5.8.2011
Blog Stargarten: Sind Sie nicht der Dani Papp? 23.8.2011
NDR: Kritikern kündigen – Umbau in den ungarischen Medien, 5.10.2011 (mit Video)
*
Dokumentation
12.11.2011: Brief 1 ist unterwegs, Einsendebeleg. Laut Rückschein am 21.11. von Zoltán Csillag angenommen.
14.11.2011: Brief 2 Einsendebeleg, laut Rückschein am 21.11. von Zoltán Csillag angenommen; Brief 3 Einsendebeleg; laut Rückschein am 21.11.2011 von Zoltán Csillag angenommen. Antwort der Medienbehörde datiert 14.12.2011
15.11.2011: Brief 4 Einsendebeleg. laut Rückschein am 23.11. von Zoltán Csillag angenommen
15.11.2011: Brief 5 Einsendebeleg. Laut Rückschein am 21.11.2011 von Zoltán Csillag angenommen.
24.11.2011: Brief 6; laut Rückschein am 7.12.2011 von Zoltán Csillag angenommen.
Die Briefe bzw. Rückscheine liegen uns vor bzw. wir kennen die Absender.
Besten Dank für die gründliche und umfangreiche Recherche.
Ihre Arbeit wird hier in Ungarn in breiten Kreisen sehr wertgeschätzt.
Vielen Dank, hört man gern.
…ich schließe mich den Worten von Anatol uneingeschränkt an.
Auf zur Post dann!