Zum Inhalt springen

„Jüdischer Ritualmord“ im ungarischen Parlament, Teil 2: Die Regierung verurteilt, aber distanziert sich nicht

14. April 2012

Kurzversion:

  • Die ungarische Regierung verurteilt die antisemitische Hetzrede im Parlament; in seltener parteiübergreifender Einigkeit soll im Parlament ein ständiger Ethik-Ausschuss eingerichtet werden, um solche Äußerungen in Zukunft zu ahnden; Viktor Orbán „garantierte“ mehrfach „allen Minderheiten“ ein sicheres Leben in Ungarn.
  • Die persönliche Kommentierung des Vorfalls wurde an „Alibi“-Abgeordnete delegiert; die Regierung vermeidet in ihrer Kommunikation eine explizite Stellungnahme gegen Antisemitismus und (Neo)Faschismus, also eine Benennung des wesentlichen Täteraspekts, und suggeriert, bei Antisemitismus handle es sich um das Problem bestimmter, klar umrissener Randgruppen sowohl auf der Täter- als auch auf der Opferseite.
  • Diese problematische Definition wird auch von Polizei und Justiz geteilt: Volksverhetzende Äußerungen („Juden abknallen“) sind nur strafbar, wenn ein unmittelbarer Zusammenhang zu Angriffen nachgewiesen werden kann.

Die antisemitische Hetzrede des Jobbik-Abgeordneten Zsolt Baráth am 3.4. im ungarischen Parlament (siehe voriger Post) hat große Empörung und Bestürzung ausgelöst. Staatssekretär János Fónagy (Fidesz) reagierte unmittelbar: „Mit dieser Rede hat sich Jobbik dort eingereiht, wo viele diese Partei sehen.“ Dies wurde vorwiegend als deutliche Verurteilung rechtsextremen Gedankengutes rezipiert.

Die LMP, MSZP und DK forderten Baráths Rücktritt; der Verband der jüdischen Gemeinden in Ungarn (Mazsihisz) verurteilte die Wortmeldung; Rabbi Slomó Köves von der Vereinigten Israelitischen Glaubensgemeinschaft in Ungarn (EMIH) erstattete Anzeige wegen Volksverhetzung, die Staatsanwaltschaft ermittelt.
Am Tag nach dem Vorfall veröffentlichte die ungarische Regierung folgende englische Stellungnahme auf der Seite des Ministeriums für Justiz und öffentliche Verwaltung:

(…) the Government of Hungary condemns in the strongest possible terms all statements directed – either explicitly or implicitly – against any social group or minority living in Hungary.

The words uttered yesterday evening in the Hungarian parliament by the Jobbik representative Zsolt Baráth were absolutely unacceptable, and run counter to every fundamental value of Parliament and the Hungarian government.“

Der israelische Botschafter hielt die Reaktion der Regierung in dieser Form für angemessen (MTI). Auch der regierungskritische Pester Lloyd war zufrieden: „Die Reaktion der Regierungsseite war diesmal einhellig, schnell und eindeutig.“

Die ungarische Stellungnahme ist auf dem Regierungsportal allerdings nicht mehr auffindbar (in den Medien  wird nicht der Originalwortlaut, sondern die MTI-Meldung zitiert, z.B. von Fidesz.hu.)

Der Opposition ging die Erklärung nicht weit genug. Der MSZP-Abgeordnete Pál Steiner sprach von „schweigender Komplizenschaft“ der Regierung, um die Sympathie der Jobbik-Wähler zu erwerben: „Man muss aussprechen, dass Jobbik eine Nazipartei ist.“ (magyarnarancs.hu)

Bislang waren Initiativen der MSZP zur Verschärfung der Hausordnung, um „Hetzreden, insbesondere rassistische, antisemitische und xenophobe Äußerungen“ zu ahnden, an mangelnder Unterstützung des Verfassungsausschusses, des Menschenrechtsausschusses und der Regierung gescheitert. (Magyar Narancs)

Als Reaktion auf den Vorfall schlug die MSZP die Einrichtung eines permanenten Ethikausschusses  vor, um rassistische, antisemitische, xenophobe und islamfeindliche Äußerungen von Abgeordneten zu ahnden. Nachdem selbst regierungstreue Auslandsmagyaren aus den USA gegen Baráths Wortmeldung protestiert und eine parteienübergreifende Verurteilung gefordert hatten, hielt auch Viktor Orbán einen entsprechenden Schritt für angeraten. Er meldete sich unmittelbar vor der Abstimmung zu Wort, unterstützte den MSZP-Antrag und gab damit den Fidesz-KDNP-Abgeordneten das Signal, entsprechend abzustimmen.  (Hungarian Spectrum) So wurde der Antrag mit 300 Stimmen, 45 Gegenstimmen (Jobbik-Fraktion und 7 Fidesz-Abgeordnete) und zwei Enthaltungen (Fidesz) angenommen. (MTI)

Wie diese parteienübergreifende „Front gegen den Antisemitismus“ (Pester Lloyd) in der Praxis funktionieren wird, bleibt abzuwarten.

Fidesz-Vizechef Kósa: Die Regierung verurteilt, aber distanziert sich nicht

Begriffe wie Faschismus und Nazismus werden von Fidesz-Politikern nur in absoluten Ausnahmefällen verwendet. Dies war an Fónagys Antwort zu sehen, der in seiner Empörung sichtlich damit rang, angemessene Worte zu finden (bzw. zu vermeiden; im Video ab 4:40). Die Gründe erklärte Fidesz-Vizechef Lajos Kósa am 6.4. in einem Interview mit György Bolgár im Klubrádió: Sich distanzieren ist eine politische Kulturtechnik der Linken, durch deren inflationäre Verwendung die Begriffe Faschismus und Nazismus in den letzten zwanzig Jahren an Bedeutung verloren haben, die Leute wollen sie nicht mehr hören, zudem drohe heute  keine reale Faschismusgefahr. Außerdem sagt Kósa fälschlich, Fidesz kooperiere nicht mit Jobbik, und Baráths Wortmeldung zeuge in erster Linie von Unwissenheit – er habe nicht gewußt, was er tat.

Interview mit György Bolgár im Klubrádió, 6.4. (Skript auf galamus.hu, Übersetzung PR):

Bolgár: Ich wüßte gern, warum stellt sich ein Lajos Kósa, ein Viktor Orbán, ein László Kövér nicht hin und sagt, das ist nicht zu dulden, das ist das Ende, mit diesen Politikern darf man nicht kooperieren, das ist keine Frage von Demokratie oder Redefreiheit, sondern das überschreitet jede Grenze?

Kósa: Es ist empörend, wir verurteilen das aufs Schärfste, und wir kooperieren nicht mit Jobbik. Wir machen genau, was Sie sagen. Sie haben Recht, das ist eine Sache, wo man aussprechen muss, bis hier her und nicht weiter, denn das ist für Ungarn, für die Menschheit unglaublich gefährlich, schädlich, und hier kommt das zurück, was wir schon sehr lange sagen, wenn die Linken schon aus Routine jedermann als Nazi beschimpfen, verliert die Gesellschaft nach einer Weile in dieser Sache ihre Immunität. (…) Sie werden doch nicht bestreiten, dass die Linken in den letzten zwanzig Jahren kontinuierlich vor der Nazigefahr und der Faschismusgefahr Alarm geschlagen hat. Stimmt das etwa nicht?

Das stimmt, und leider sind sie da.

Ja, das ist genau was ich meine, wenn (lies: weil) sie ständig deswegen Alarm schlagen, auch dann, wenn es eindeutig nicht darum geht, dass eine echte Faschismusgefahr oder echte Nazigefahr bestünde, sondern nur darum, diese Begriffe politisch zu instrumentalisieren, sind wir leider an dem Punkt, wo ein Teil der ungarischen Gesellschaft ihre Immunität gegen diese Dinge verloren hat. Denn Sie haben es so oft zu Unrecht, so oft aus offensichtlich politischen Gründen gesagt (…). Wenn man diese Begriffe als politische Mittel benutzt, kann das leider dazu führen wie in der Geschichte vom kleinen Hahn, der ständig Wolf geschrien hat und am Ende nicht mehr ernst genommen wurde, und dann nahm ihn der Wolf mit. (…) Wir greifen auf keinen Fall zu solchen Mitteln, schlagen nie Alarm über Nazi- oder Faschismusgefahr.

Stimmt, das haben Sie wirklich nicht getan, aber ich denke, dass Sie sich leider nicht entschieden genug distanziert haben in Fällen, wo es wirklich nötig gewesen wäre. (…)

Sie sprechen von Distanzierungen, Herr Bolgár. Mit Distanzierungen ist es genau so, wie ich das eben gesagt habe. Man kann sich nicht ständig distanzieren, weil das ab einem gewissen Punkt seinen Sinn verliert, die Menschen bemerken es nicht mehr. Sie distanzieren sich doch auch nicht ständig von allem. (…) Wir verurteilen rassistisches Gedankengut zutiefst, haben es immer verurteilt und werden es immer verurteilen. Wir haben nie mit Leuten zusammengearbeitet, die solches Gedankengut vertreten. Auch mit Jobbik werden wir nicht zusammenarbeiten, das haben wir immer gesagt, und das wird auch in Zukunft so sein.

(Anm.: Fidesz koalierte vor den Europawahlen 2009 in über 100 Fällen auf kommunaler Ebene mit Jobbik (hagalil.com, republikon.hu) und schon während der ersten Orban-Regierung u.A. mit der Kleinlandwirte-Partei, von der eindeutige antisemitische Töne zu hören waren. (hagalil.com) Seit 2009 warb der Autor und bekennende Antisemit István Csurka, Vorsitzender der rechtsextremen Partei MIÉP, bei den Rechtsextremen für Fidesz um Wählerstimmen, und seiner antisemitischen Parteizeitung Magyar Fórum gaben Fidesz-Politiker regelmäßig Interviews (so 2009 der heutige Verfassungsrichter István Stumpf und der Abrechnungsbeauftragte der ungarischen Regierung Gyula Budai 2011). Dafür sollte Csurka 2011 mit einem eigenen Theater belohnt werden; der Budapester Fidesz-OB István Tarlós ernannte den Rechtsextremen György Dörner zum Direktor des Új Színház (Neues Theater) und Csurka zum neuen Intendanten. Csurka ist im Februar verstorben; im Herbst will Dörner Csurkas antisemitisches Stück „Der sechste Sarg“  aufführen, womit Tarlós kein Problem hat. Csurka war es auch, der im September 2003 mit mehreren hundert MIÉP-Anhängern die erste große Gedenkveranstaltung am Eszter Solymosis Denkmal in Tiszaeszlár abhielt. (wiki) Noch kurz vor seinem Tod demonstrierte Csurka mit Fidesz-Kommunalpolitikern für die Orbán-Regierung.)

(Kosa Fortsetzung:) Unabhängig davon werden wir uns nicht jedes Mal, wenn irgendein Jobbik-Politiker irgendeinen himmelschreienden Blödsinn erzählt oder eine unzulässige Äußerung macht, davon distanzieren, denn dann wäre das Ganze nicht mehr ernst zu nehmen. (…) Was der Jobbik-Abgeordnete zur Affäre von Tiszaeszlár sagte, zeigt zum Einen, dass er ernste historische Lücken hat, und außerdem, dass er keine Ahnung davon hat, was für Gedankengut er da direkt oder indirekt pflegt, wenn er solche Dinge sagt. Er weiß auch nicht, welch unermesslichen Schmerz und Verlust dieses Gedankengut Ungarn verursacht hat, das sie (…) im Zusammenhang mit der Affäre von Tiszaeszlár, leider, ob bewusst oder nicht, aber zur Sprache gebracht und unterstützt haben, als Ungarn seinen Widerstand verlor und deswegen viele Hunderttausende unserer Mitbürger draufgegangen sind, die uns allen schmerzlich (wörtlich: sehr-sehr) fehlen.“ (Interviewtext Ende)

*

„Ungarn verlor seinen Widerstand“, „Mitbürger draufgegangen“ – reichlich seltsam formuliert für die  Tatsache, dass die ungarische Regierung, Behörden und Bevölkerung sich 1944 an der Deportation von 600.000 jüdischen Mitbürgern beteiligten. Und sehr ähnlich Kósas eigener Aussage, dass die Gesellschaft heute zunehmend „ihre Immunität“ gegen rechtsextremes Gedankengut verloren habe – dies natürlich nur, weil die Sozialisten und Liberalen seit zwanzig Jahren die Antisemitismuskeule schwingen.

Der „Antisemitismusbeauftragte“ reagiert

Wie sich schon in anderen Fällen beobachten ließ, sind bei Fidesz für “Minderheitenthemen” Abgeordnete zuständig, die der entsprechenden Minderheit selbst angehören und bei Bedarf die ungarische Regierung vor Kritik in Schutz nehmen und/oder konstatieren, dass kein Problem vorliegt. Dies sind insbesondere Flórián Farkas (als Parlamentsabgeordneter 2011 ganze null Wortmeldungen), die Europaabgeordneten Lívia Jaróka und Ágnes Hankiss, sowie Staatssekretär János Fónagy. Der einzige jüdische Fidesz-Abgeordnete im Parlament wurde schon im August 2011 von Jobbik antisemitisch angegriffen; Fidesz-Fraktionschef Lázár hatte darauf rechtliche Mittel in Aussicht gestellt, um die Jobbik-Fraktion „ein für alle Mal“ an solchen Äußerungen zu hindern. (politics.hu, atv, origo) Bislang ohne Folgen, wie man weiß.

Umso mehr verwundert, dass ausgerechnet Fónagy abbestellt wurde, um auf Baráths Wortmeldung zu reagieren. Diese erfolgte nach der Tagesordnung, als nur noch wenige Abgeordnete anwesend  waren, außer Baráth und Fónagy nur noch der Vorsitzende Zoltán Balczó (Jobbik) und einige Jobbik-Abgeordnete. Laut Statuten lag das Thema der Wortmeldung („130 Jahre Tiszaeszlár“) dem Parlamentspräsidenten (derzeit Sándor Lezsák) vor; Fónagys Anwesenheit muss mit Lezsák abgesprochen gewesen sein.

Dass außer ihm von der Fidesz-Fraktion niemand mehr zugegen war, läßt sich so deuten, dass der potentielle Skandalgehalt der Wortmeldung zwar im Vorfeld bekannt war, die Fidesz-Fraktion jedoch nicht davon unterrichtet wurde oder bei dem zu erwartenden Eklat absichtlich nicht mehr zugegen sein sollte (einzelne Abgeordnete hätten ihrer Empörung Ausdruck verliehen – oder eben nicht?), und die Anwesenheit des für „Judenthemen“ Zuständigen als ausreichend betrachtet wurde.

Der „Antifaschismusbeauftragte“ reagiert

Am Tag von Baráths Wortmeldung, am 3.4. tagsüber, hielt der Bund Ungarischer Antifaschisten und Widerstandskämpfer (MEASZ) eine Gedenkveranstaltung zum Ende des Zweiten Weltkrieges und der faschistischen Pfeilkreuzler-Diktatur ab (MTI).  In der Einladung der Veranstalter stand ausdrücklich „Ungarns Befreiung vom Faschismus“.

Der MEASZ ist für Fidesz-Politiker absolut nicht dialogwürdig („Kommunisten“), obwohl ihre Meinungen in der sogenannten „oberflächlichen Kapitalismuskritik“ einen gemeinsamen Nenner finden. Diese geht zurück auf die Faschismusdefinition nach der 1935 vom Generalsekretär der Komintern, Georgi Dimitroff verkündeten Formel (wiki), die den Faschismus als Krisenphänomen des Kapitalismus definiert. Diese Definition ist in Ungarn allgemein verbreitet. (PR dankt Magdalena Marsovszky.)

Umso ungewöhnlicher, dass für diese Gedenkveranstaltung der Alterspräsident des ungarischen Parlaments, János Horváth (Fidesz) als Redner gewonnen werden konnte. Jobbik forderte deswegen umgehend seinen Rücktritt: „Fidesz-Politiker feiert die Besetzung unseres Landes mit den Antifaschisten!“ (barikad.hu)

In seiner Rede (Audio hier) konzentrierte Horváth sich auf den „Zusammenhalt der Nation“ in der Zeit zwischen Kriegsende und Machtergreifung der Kommunisten und konnte die ideologischen Differenzen mit den Veranstaltern auf diese Weise  umschiffen.

Im Anschluss erklang nicht etwa die Nationalhymne, sondern das Lied „Magyarország“ der Sängern Ibolya Oláh von 2005, eine „Zweithymne“ der Linken ohne nationalistische Untertöne (Oláh hier auf einer Veranstaltung der Magyar Demokratikus Charta 2011). In diesem Kontext wirkt Horváths Auftritt endgültig surreal.

Laut MEASZ-Seite wurde er bereits im März von den Veranstaltern eingeladen, aber er hätte die Einladung nicht ohne Zustimmung seiner Partei annehmen können. Horváth ist 90 Jahre alt, hat das Kriegsende miterlebt und kann einen solchen Auftritt glaubwürdig absolvieren, ohne dadurch das Ansehen der Partei zu schädigen; seine politische Zukunft ist auch kein Faktor mehr. Vermutlich war sein Auftritt als positives Signal an die anwesenden ausländischen Botschaftsvertreter gedacht – unter anderem den israelischen Botschafter.

Und es war ausgerechnet Horváth, der sich als einziger Fidesz-Politiker in einer persönlichen Erklärung zu Baráths Rede äußerte, in der das Wort „antisemitisch“ vorkam. Die am 5.4. von der Fidesz-Fraktion über den Landespressedienst herausgegebene Erklärung ist eigentlich das, was man sich von der Parteispitze oder gar der Regierung gewünscht hätte:

„Es wäre eine schmerzende Wunde und eine demütigende Schande, wenn der Abgeordnete Zsolt Baráth am 3. April 2012 stellvertretend für das ungarische Volk gesprochen hätte, als er, Dummheiten und Bösartigkeit miteinander verknüpfend, antisemitische Hetze betrieben hat.
Diesen Tonfall und diese Mentalität verurteile ich zutiefst, und ich weiß gut, dass das ungarische Volk hier in der Heimat und auf der ganzen Welt sie ebenfalls verachtet. (…)“

Die Lösung dieses Problems sieht Horváth im „patriotischen Zusammenhalt“, der „ein auf gegenseitigem Respekt und Liebe aufgebautes Selbstwertgefühl der Nation schafft.“ Wohlgemerkt ist „patriotischer Zusammenhalt“ nicht dasselbe wie gesamtgesellschaftlicher Zusammenhalt und eine breite gesellschaftliche Verurteilung von Rechtsextremismus; dies ist die Aussage „nur Fidesz schützt vor Jobbik“ (s.u.) in anderer Form.

Von den oppositionellen Medien wurde Horváths persönliche Stellungnahme stellvertretend für Fidesz akzeptiert. Atv titelte am 5.4.: „Fidesz: Der Jobbik-Abgeordnete betrieb antisemitische Hetze.“

Orbán garantiert die Sicherheit aller Minderheiten in Ungarn – Regierungsmedien vermeiden das Wort „Antisemitismus“

Am 10.4. erklärte Viktor Orbán im Parlament, „wir schützen alle Minderheiten, so auch die in Ungarn lebenden Juden.“ (MTI)

Die ungarischen Juden begreifen sich nicht als Minderheit, sondern in erster Linie als Ungarn. Orbáns Aussage kann so interpretiert werden, daß die Regierung die „Juden“ als Minderheit betrachtet und Ungarn mittlerweile (wieder) an einem Punkt angelangt ist, wo selbst der Ministerpräsident ihre Gefährdung offen eingesteht. Dies erinnert an ähnliche Aussagen der ungarischen Regierung über die Roma, mit denen Fidesz sich als Bollwerk gegen Jobbik präsentiert:

„Nur FIDESZ schützt vor Jobbik“ (…) die regierende FIDESZ stelle sich vor die Roma. „Sie wissen, dass FIDESZ die einzige Partei ist, die sie vor Jobbik schützt.“ (Staatssekretär für Integration Zoltán Balog, ORF)

Die ungarischen Roma fühlen sich von der ungarischen Regierung so gut geschützt, dass sie zu Tausenden nach Kanada auswandern (2010 noch 2.300, 2011 bereits 4.409 Personen), und nicht nur ungebildete Dorfbewohner, sondern ehemalige PolitikerInnen mit Hochschulabschluss und Berater der Regierung, siehe

Am 11.4. trafen sich Viktor Orbán und Vizepremier Zsolt Semjén mit dem Fidesz-nahen Oberrabbiner der Vereinigten Israelitischen Glaubensgemeinschaft in Ungarn (EMIH) Slomó Köves. Orbán sagte erneut, die Regierung „garantiere“, dass „in Ungarn jede Minderheit in Sicherheit leben“ könne. Während Köves noch im Februar von der Fidesz-Europaabgeordneten Hankiss als Beleg dafür zitiert werden konnte, “dass der Antisemitismus in Ungarn weniger verbreitet sei als in Westeuropa” (politics.hu), sprach er bei diesem Treffen klare Worte. In der Erklärung seiner Gemeinde heißt es:

„Die Versammelten waren sich einig, dass die Antisemitismusfrage keine Frage der politischen Einstellung sein kann. Slomó Köves betonte wiederholt, dass der Kampf gegen den Antisemitismus in erster Linie nicht Aufgabe der jüdischen Gemeinden, sondern der ganzen Gesellschaft ist. Seiner Meinung nach war der Fall der letzten Woche nur die Spitze des Eisbergs, im Parlament fielen in der Vergangenheit am laufenden Band rassistische Äußerungen, die ohne Konsequenzen blieben.“

In der Tat unerhört klare Worte. Die Passage findet sich bislang auf jüdischen Seiten und bei index.hu, auch in der MTI-Meldung war sie enthalten; bei der öffentlich-rechtlichen Nachrichtenseite hirado.hu und der regierungsnahen Magyar Nemzet Online fehlt sie. Durch diese Auslassung wird suggeriert, bei Antisemitismus handle es sich um das Problem bestimmter klar umrissener Randgruppen sowohl auf der Täter- als auch auf der Opferseite.


(zsido.com)

Aber antisemitische Hetze richtet sich nicht nur gegen jüdische Gemeinden. Wer „Juden“ sind, definieren die Rechtsextremen. Auf den „Juden”-Listen im Internet sind längst nicht nur Personen jüdischer Abstammung oder Identität aufgeführt, diese werden vielmehr aufgrund ihrer „antimagyarischen Aktivitäten“ zum „inneren Feind“ gezählt und damit zu „Juden“ erklärt. So steht der Regisseur Bence Fliegauf seit 2010 auf der ungarischen “Juden”-Liste bei Metapedia („Zsidók a magyar közéletben“), nur weil er in einem Interview von seinen Plänen erzählte, einen Film über die Romamorde zu machen. „Csak a szél“ wurde 2012 mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet.

Wer die Position vertritt, „Antisemitismus ist, wenn die Juden Angst haben, dann muss man sie beruhigen”, blendet die Täterdimension und die Verantwortung der Gesamtgesellschaft aus. Besonders problematisch, wenn diese Position auch von Polizei und Justiz vertreten wird.

Oben: „Wir werden die jüdische Gemeinde schützen.“ Unten (mit dem antisemitischen Publizisten Zsolt Bayer): „Und dann hab ich ihnen gesagt, „wir werden die jüdische Gemeinde schützen.“ (Blog Örülünk Vincent)

Polizei: “Dreckige Juden abknallen” ist keine Volksverhetzung

Kurz nach den Attentaten in Norwegen konnten ungarische Neonazis auf dem rechtsextremen Festival Magyar Sziget in Anwesenheit von Jobbik-Abgeordneten unbehelligt von den Behörden Kriegsrat halten:

“Man muss soweit kommen, dass man den Abzugshahn eines Sturmgewehrs ziehen kann, wenn man (…) eine abweichende Hautfarbe sieht. (…) Werden wir den Mut haben, es zu wagen, einen verdammten, dreckigen Juden abzuknallen? (…)” Zsolt Tyirityán, Betyársereg.

Siehe auch Pester Lloyd: Inseln der Freude und des Hasses- Rechtsextreme in Ungarn rufen zum “Krieg der Rassen” auf

Mehrere NGOs, so das Rechtsschutzbüro für nationale und ethnische Minderheiten (NEKI), das Helsinki Komitee Ungarn, die ungarische Antifaschistische Liga und Privatpersonen erstatteten  Anzeige wegen Volksverhetzung („Gewalt gegen eine Gemeinschaft“).

Anfang April stellte das Polizeipräsidium des Komitats Pest die Ermittlungen gegen Unbekannt (!) mit der Begründung ein, es läge keine Straftat vor. Dies sei erst dann der Fall, wenn als Auswirkung der Hetzrede „eine reale Möglichkeit besteht, dass Schädigungen (sérelem) erfolgen“ (NOL), wenn also zwischen der Hetzrede und einem Angriff ein unmittelbarer Zusammenhang nachgewiesen werden kann.

Es wird interessant zu beobachten, auf welche Definition von Volksverhetzung sich die Abgeordneten im Ethikausschuss einigen können.

*

Weiterlesen morgen in Teil 3: „Jüdischer Ritualmord“ im ungarischen Parlament, Teil 3: Abgekartetes Spiel zwischen Fidesz und Jobbik?

3 Kommentare leave one →
  1. Judith B. permalink
    15. April 2012 07:17

    Dank für die intensve Aufarbeitung der Thematik. Es ist nicht einfacht in Ungarn, Jude zu sein.Damit will ich die Probeme der „Minderheiten“, bewusst so geschrieben weil für mich keine Minderheit sonder ein Bestandteil der ungarischen Benölkerung, nicht beiseite geschoben werden. Doch hier steht der Umgang mit Juden im Vordergrund. Mich würde auch interessieren, wie die jüdischen Ungarn, und nicht die offiziellen Sellen wie MAZSIHISZ, ihre Lage sehen.

  2. Don Kichote permalink
    15. April 2012 11:06

    Zu Kosa:
    →„…. wir kooperieren nicht mit Jobbik. Wir machen genau, was Sie sagen. ….“

    Wenn man das ernst nimmt, weiß Herr Kosa wohl nicht was er redet.

    →“ ….wenn die Linken schon aus Routine jedermann als Nazi beschimpfen, verliert die Gesellschaft nach einer Weile in dieser Sache ihre Immunität…..-> … die Linken in den letzten zwanzig Jahren kontinuierlich vor der Nazigefahr und der Faschismusgefahr Alarm geschlagen hat. …“

    Hier fehlt es eindeutig an Allgemeinwissen, dass sollte man als Politiker eigentlich haben, wenn alle Bürger außerhalb von Fidesz und Jobbik als linke bezeichnet werden so gibt das nicht nur ein faden Geschmack sondern man Fragt sich in welchen simplen Strukturen hier gedacht wird. Eine solche Reduktion der Parteienlandschaft ist für mich verblüffend. Wenn die Gesellschaft immun ist gegen Beschimpfungen, so wie es Herr Kosa sagt, der Nazigefahr und der Faschismusgefahr, wird es längst Zeit diese Immunität zu verlieren, damit endlich deren Gefahren wahr genommen wird. Der Trost dabei ist, dass die von Herrn Kosa als Linke bezeichnete Bevölkerung, was unbewiesen angeblich Linke sind, wenigstens hier Alarm schlagen und hoffentlich bleibt die ungarische Gesellschaft hier nicht weiter Immun dagegen.

    →„Denn Sie haben es so oft zu Unrecht, so oft aus offensichtlich politischen Gründen gesagt (…). Wenn man diese Begriffe als politische Mittel benutzt, kann das leider dazu führen wie in der Geschichte vom kleinen Hahn, der ständig Wolf geschrien hat und am Ende nicht mehr ernst genommen wurde, und dann nahm ihn der Wolf mit. (…)“

    Das es Nazi´s und Faschismus in Ungarn gibt ist für mich unbestritten. Wenn dieses zu Unrecht gesagt wird hat jeder Betroffene die Möglichkeit dieses Anzuzeigen um sich der üblen Nachrede zu entledigen. Bisher sind mir keine Fälle bekannt geworden. Ob diese Vorwürfe politisch oder privat oder sonst wie ausgesprochen, Kosa meint benutzt, werden ist doch völlig unerheblich denn Sie entsprechen dem was man in Ungarn finden kann. Hier gibt es keine Inflation des Vorwurfes und wenn er hunderte von Jahren besteht. Der Wolf wird uns irgend einmal holen. Und jetzt noch dieser freudsche Versprecher →„Wir greifen auf keinen Fall zu solchen Mitteln, schlagen nie Alarm über Nazi- oder Faschismusgefahr.“
    →“Wir verurteilen rassistisches Gedankengut zutiefst, haben es immer verurteilt und werden es immer verurteilen.“

    Es ist seltsam das ich, bis auf einmal kürzlich, nie darüber lesen konnte. Es lohnt sich nicht, darüber weiter zu schreiben, die Ansicht von Herrn Kosa ist entlarvend. Einen Dank an Pustaranger.

Trackbacks

  1. Ungarische Behörden bleiben untätig gegen rechtsextremes Hetzportal | Pusztaranger

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

%d Bloggern gefällt das: