Philosophenprozesse: Staatsanwaltschaft stellt Ermittlungen ein
[Update 6.12.2013: Der Philosoph Sándor Radnóti hatte das Regierungsorgan Magyar Nemzet wegen der Hetzkampagne auf 2 Mio HUF (ca. 6600 EUR) Schadensersatz verklagt; gestern gab das Budapester Gericht ihm Recht und verurteilte die Magyar Nemzet zur Zahlung der vollen Summe, wie er heute auf seiner Facebookseite berichtet.]
Pester Lloyd: Staatsanwaltschaft in Ungarn beendet „Philosophenjagd“
Die Budapester Staatsanwaltschaft hat die Ermittlungen gegen wissenschaftliche Mitarbeiter des Philosphischen Institutes der Akademie der Wissenschaften wegen des geäußerten Verdachts auf Untreue und Missbrauchs öffentlicher Gelder ergebnislos eingestellt.
Damit wurden gleichzeitig die Aktivitäten des „Regierungskommissars zur Abrechnung mit den Vergehen der Vorgängerregierung“, Gyula Budai, einem außerhalb der Judikative, von Premier Orbán persönlich eingesetzten Sonderkommissars als rein politisch motivierte Aktionen entlarvt. Dieser hatte über Monate eine umfangreiche Öffentlichkeits- und Pressekampagne gegen eine Reihe auch international renommierter „linker“ Philosophen wie u.a. Ágnes Heller, Sándor Radnóti, Mihály Vajda, György Gábor und György Geréby, losgetreten und diese als Schmarotzer und Betrüger dargestellt. Regierungsnahe Medien unterstützten Budai dabei eifrig. Einige der Beschuldigten wehrten sich mit Verleumdungsklagen gegen Budais Anschuldigungen. Der Fall schlug auch international hohe Wellen als eine Gruppe deutscher Philosophen mit Jürgen Habermas an der Spitze sich bei der EU-Kommission über diese regierungsamtliche Rufmordkampagne beschwerte.
Bereits im Mai beendete die Polizei ihre Untersuchungen mit der Begründung „mangelnder Anhaltspunkte und Verdachtsmomente“, nun folgte auch die Staatsanwaltschaft, zumindest auf Hauptstädtischer Ebene nach und bestätigte die Richtigkeit der polizeilichen Entscheidung. Die Entscheidung der Budapester Staatsanwalt kann als Indiz für eine noch funktionierende unabhängige Justiz in Ungarn gelten. (…)
Agnes Heller im Januar 2011 zu den Vorwürfen (Englisch): Die Entscheidung der Budapester Staatsanwaltschaft gab ihr nun Recht.
Zu den Philosophenprozessen auf diesem Blog:
- Haltet den Dieb: Antiliberaler Antisemitismus in Aktion, 10. Januar 2011
- Hetzjagd auf Philosophen in Ungarn: Offener Brief, 22. Januar 2011, von Prof. Dr. Laszlo Tengelyi vom Philosophischen Seminar der Bergischen Universität Wuppertal.
- Chronik eines Schauprozesses, 3. Februar 2011
- Chronik eines Schauprozesses – Teil 2, 14. Februar 2011
- Philosophenprozesse: Das “Voldemort-Phänomen” 27. Februar 2011
- Die Phänomenologie des Geistes als Dienstgeheimnis – stalinistische Methoden an der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, 8. Juni 2011
Siehe auch ausführlich: Amnesty.de: ANGETRETEN, UM ABZURECHNEN, Juni 2011
Es folgt ein Interview mit einem Betroffenen vom Juni, Übersetzung N.N., PR dankt.
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168ora.hu: György Geréby: Es ist nicht leicht, zu vergessen – Es war eine dumme, politische Hetzkampagne. 9.6.2012
Die Polizei hat in allen Philosophenverfahren die Untersuchung als ergebnislos eingestellt. Der Skandal wurde durch eine Artikelserie der Tageszeitung Magyar Nemzet vor einem Jahr ausgelöst. Sie bezichtigte liberale Wissenschaftler – unter ihnen Ágnes Heller, Sándor Radnóti, Mihály Vajda, György Gábor und György Geréby – 2004-2005 Forschungsgelder veruntreut zu haben. Auf Grund dieser Artikel erstattete der Regierungsbeauftragte für Abrechnung im Zusammenhang mit vier Ausschreibungen Anzeige wegen Veruntreuung. Ein Verfahren bezog sich auf das Philosophische Institut der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Am Programm zur Erforschung der gesellschaftlichen Rolle von Religionen war als externer Mitarbeiter auch der namhafte Philosophieprofessor György Geréby, Dozent an der Central European University beteiligt. Ein Interview von Zsuzsanna Sándor.
– Zur Diffamierung der Philosophen fällt mir ein Filmtitel ein: „Untersuchung abgeschlossen, vergessen Sie’s!” Hat sich bei Ihnen wegen der Verleumdungen jemand entschuldigt?
– Nein. Wie es scheint, ist das unter ihrer Würde. Es ist nicht leicht, zu vergessen, aber ich hoffe, irgendwann werde ich an das Ganze als an eine Geschichte zurückdenken, in der schließlich doch die Wahrheit gesiegt hat. Unser Fall könnte das Schulbeispiel für eine bösartige und dumme politische Hetzkampagne sein.
Die Medienkampagne gegen unsere Wissenschaftler wurde im Januar 2011 von der Tageszeitung Magyar Nemzet angezettelt. Traf Sie das unerwartet?
Absolut. Ich war gerade in der Provinz, als mich ein Bekannter anrief, damit ich mir ansehe, was da über uns geschrieben wird. „Heller und Co. haben eine halbe Milliarde verforscht”. Es ist eine Ehre, unter solchen Namen genannt zu werden, aber wir sind keineswegs eine Gruppe, die Medien haben völlig unterschiedliche Ausschreibungen vermischt.
An die Verleumdungskampagne schlossen sich bald auch die anderen rechtsgerichteten Presseorgane an. Sie schrieben, dass Sie die bei Ausschreibungen gewonnenen öffentlichen Gelder im Schubkarren nach Hause gebracht hätten. Ihre Fotos wurden neben die von Zuschlag (Anm.: Wegen Korruption verurteilter sozialistischer Politiker) gestellt, was suggerieren sollte, dass die liberalen Philosophen gemeine Straftäter sind.
Gegen uns lief ein politischer Schauprozess, mit dem Ziel, Angst und Schrecken zu verbreiten: kein einziger Intellektueller sollte sich sicher fühlen, denn es können auch längst abgeschlossene, finanziell längst überprüfte Ausschreibungen wieder geöffnet werden, und jeder kann ohne jegliche Beweise mit Dreck beschmiert werden. Ich habe an einer Ausschreibung mit dem Philosophischen Institut der Akademie der Wissenschaften teilgenommen, unser Projekt lief von 2004 bis 2008. Unser Projektleiter war Gábor Borbély, der damalige Direktor des Philosophischen Instituts. Wir haben unsere Arbeit zum vorgegebenen Termin abgeschlossen und über alle Ausgaben auf Heller und Pfennig abgerechnet.
Wie konnten Sie trotzdem zur Zielscheibe werden?
Im Philosophischen Institut wurde vor zwei Jahren ein Direktorenwechsel vorgenommen, der sehr viele fachliche und persönliche Konflikte verursacht hat. Die neue Leitung (Anm.: János Boros) und ein neidischer, eifersüchtiger Kollege (Anm.: Tamás Demeter) wollten Rache nehmen, in dem sie unser Projekt im Sommer 2010 anzeigten (Anm.: vgl. Posts Chronik eines Schauprozesses – Teil 2, 14. Februar 2011 und Philosophenprozesse: Das “Voldemort-Phänomen”, 27. Februar 2011.). Sie verdächtigten uns finanzieller Machenschaften, aber dermaßen ohne jegliche Grundlage, dass die Polizei das Verfahren bereits im Herbst abgeschlossen hätte. (…) Diejenigen, die die Anzeige erstattet haben, haben ihre „Dossiers” auch den der Regierung nahestehenden Zeitungen zukommen lassen, die Presse arbeitete aus ihrem Material. Und während wir mit Dreck beworfen wurden, verschwiegen sie, dass die Polizei das Projekt des Philosophischen Instituts bereits untersucht und nichts gefunden hatte.
Es ist beachtenswert, daß auch József Pálinkás, der Präsident der Akademie, keine Stellung für Sie bezogen hat. Mehr als das, nach dem Beginn des Philosophenskandals sagte er unserer Zeitung, dass eine interne Untersuchung der Akademie bei Ihrem Projekt finanzielle Unregelmäßigkeiten festgestellt habe. „Aus dem Bericht habe ich erfahren, dass Gábor Borbély seine eigene Firma mit der Verrichtung von Teilarbeiten für das Projekt beauftragt hat” – sagte Pálinkás. In einem anderen Interview mit dem Fernsehsender ATV warf er sogar die Möglichkeit der Steuerhinterziehung auf.
Und das, obwohl er wissen musste, dass das Projekt auch von der zuständigen Abteilung der Akademie der Wissenschaften beaufsichtigt und überprüft worden war (…), und nichts beanstandet wurde. Die Bezahlung auf Rechnung war damals im wissenschaftlichen Leben gängige Praxis, mehr als das, eigentlich konnte man nur auf diese Weise sein Honorar ausbezahlt bekommen. Aber als nach dem Regierungswechsel die Hetze gegen die liberalen Philosophen begann, schloss sich auch die Akademie an. Es wurde eine interne Untersuchung gegen uns eingeleitet, und diesmal wurde das vorher bereits gebilligte Projekt als verdächtig befunden.
Der Sachlichkeit zuliebe muss hinzugefügt werden: als die Empörung über die Philosophen schon hohe Wellen schlug, gab der Präsident der Akademie eine Mitteilung heraus, in der er die heimische Presse zur Selbstmäßigung aufrief.
Weil der Skandal bereits internationales Echo auslöste, und dadurch auch für die Akademie peinlich wurde. Dem Präsident dürfte klar geworden sein, dass auch die Verantwortung der Akademie untersucht werden würde, wenn es tatsächlich zu einem Prozess wegen Veruntreuung kam. Ich habe nie befürchtet, dass wir in einem Gerichtsprozess verurteilt würden.
Obwohl in den Fernsehnachrichten bereits in Handschellen abgeführte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens als politische „Hintergrundbilder” gezeigt wurden…
Aber sie hatten wirklich nichts gegen uns in der Hand. Es war spürbar, dass sie wirklich alles unternahmen, um etwas zu finden, einen Fehler in der Buchhaltung, der Administration, an dem sie sich festbeißen konnten. Aber zur Fälschung von „Beweisen” haben sie sich doch nicht herabgelassen, und so sind wir mit einer nervenzermürbenden Prozedur von anderthalb Jahren „davongekommen”. Für das Niveau des Verfahrens ist charakteristisch, dass Budai Anzeige gegen Unbekannt erstattete, und die rechtsgerichtete Presse sofort die Namen der politischen Zielscheiben veröffentlichte. Sie haben nicht einmal die elementaren Regeln des Journalismus eingehalten, kein einziger der verdächtigten Philosophen wurde auch nur einmal gefragt. Ich habe mich einmal an Hír TV gewandt, aber völlig umsonst.
Wollten Sie ihnen ein Interview geben?
In einer Nachrichtensendung haben sie einmal gesagt, dass ich mit György Gábor noch an einem anderen Projekt teilgenommen und davon angeblich 180 Millionen Forint mit nach Hause genommen hätte. So eine Ausschreibung hat es nie gegeben, ich habe keine Ahnung, woher das kam. Ich habe ihnen ein Fax geschickt (…). Trotzdem wurde die Lüge in den Nachrichtensendungen mehrmals wiederholt. Wir haben gegen sie geklagt und glatt gewonnen.
Haben Sie außer der moralischen auch andere Verluste erlitten?
Solange das Verfahren lief, konnten wir uns bei keiner Ausschreibung bewerben, und es sind Arbeitsmöglichkeiten ausgefallen. György Gábor wurde inzwischen aus dem Philosophischen Institut entlassen. In breiteren fachlichen Kreisen war das Misstrauen zu spüren, als hätte man Angst, sich mit uns sehen zu lassen. Es war bestürzend, dass 22 Jahre nach der Wende immer noch diese (…) Angst herrscht. Natürlich hatten wir auch gute Erlebnisse: Im Internet wurden Solidaritätsaktionen für uns organisiert, und es gab konservative Intellektuelle, die uns in einem offenen Brief in Schutz nahmen. Sie haben bewiesen, dass das wichtigste der fachliche und menschliche Anstand ist.
Aber wie sie bereits sagten, kam gerade von den Anklägern nicht einmal ein leises „sorry”. Wollen Sie nicht Schadenersatz fordern?
Ich werde gegen die betreffenden Medien klagen. Aber ich meine, sie wären es vor allen sich selbst schuldig, wenn ihnen noch ein Funken Anstand geblieben wäre.
*
Im März 2011 veröffentlichte unsere Zeitung unter dem Titel „Projekt, Prestige, Politik“ ein Interview mit dem Präsidenten der Akademie der Wissenschaften, József Pálinkás. Im Zusammenhang mit dem Verfahren gegen die Philosophen fragten wir unter anderem, ob er bereit sei, sich bei den Philosophen zu entschuldigen, wenn sich bei der Untersuchung die Unschuld der Wissenschaftler herausstellt. Der Vorsitzende der Akademie antwortete: „Sollte sich herausstellen, dass der interne Bericht der Akademie unbegründet ist – was ich nicht für wahrscheinlich halte -, werde ich meine Mitarbeiter, die die Überprüfung durchführten, wegen ihrer irrtümlichen Feststellungen zur Rechenschaft ziehen”.
Jetzt, nachdem die Ermittlungen eingestellt wurde, hätten wir gerne erfahren, ob jemand in der Akademie zur Rechenschaft gezogen wird. Wie könnte man die moralischen Schaden der Philosophen etwas mildern? Auf unsere Anfrage antwortete das Pressebüro der Akademie: „Der Herr Präsident kommt derzeit zahlreichen Presseanfragen (…) nach und möchte sich zu den Philosophenprozessen nicht äußern.“
Die Stelle eines Sonderkommissars zur Untersuchung von Vergehen der Vorgängerregierung bzw. deren Nutznießer (außerhalb der normalen Exekutive muss es heißen, denn die Staatsanwaltschaft wird auch in Ungarn nicht zur Judikative gehören, auch wenn viele in Ungarn von ihr eine Art richterliche Unabhängigkeit erwarten) wurde ja von den Sozialisten nach der 1. Orban-Regierung eingerichtet und mit Keller Laszlo besetzt. Witzig ist, dass der u.a. ermitteln lassen hatte gegen den jetzigen Inhaber des Amtes Papcsák Ferenc; vor Gericht aber (nicht nur gegen Papcsák) gescheitert war.
http://www.origo.hu/itthon/20100607-papcsak-ferenc-elszamoltatasert-felelos-kormanybiztos-volt-a-gyanuba-keveredettek-oldalan.html
Wenn ich die Philosophen-Sache richtig verstehe, ist das Verfahren hier gar nicht vor das Gericht gekommen, sondern die Ermittlungsbehörden haben das Verfahren eingestellt. Schlussfolgerungen für den Zustand der Justiz lassen sich aus der Angelegenheit deshalb wohl nicht ziehen. Für die Polizei/Staatsanwaltschaft kann man festhalten, dass sie entweder in der Lage ist, eine unbegründete Verfolgung rechtzeitig einzustellen oder aber dass sie nicht der Lage ist, eine Sache ordentlich zu ermitteln. Mit Papcsáks Sache war man seinerzeit wie gesagt vor Gericht gegangen. Daraus kann man schließen, dass unter den Sozialisten die Staatsanwaltschaft nicht so einsichtig war, eine zur Erfolglosigkeit verdammte Sache rechtzeitig aufzugeben oder man nicht in der Lage war, die Sache ordentlich zu ermitteln oder dass das Gericht nicht in der Lage war, ein ordentliches Urteil zu fällen. Was die Presse und ihre Kampagnen angeht, hier ein interessanter Fall:
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-17976118.html