Viktor Orbáns Blut-und Boden-Rede (Dokumentation und Kommentar)
Bei seiner Einweihungsrede einer monumentalen Turulstatue am 29.9.2012 in Ópusztaszer (Redetext und Video s.u.) benutzte Viktor Orbán explizit die Formulierung „Blut- und Heimatboden“, siehe ausführlich Standard: Umstrittene Blut-und-Boden-Rede Orbáns, dpa-Korrespondent Gregor Mayer aus Budapest, 4. Oktober 2012:
(…) Ungarns Premier Viktor Orbán sorgt mit einer nationalistischen Rede für neue Irritationen im In- und Ausland. (…) (Sie) stellte nach Ansicht vieler Beobachter alles bisher von ihm Vernommene in den Schatten.
Warum ein Turul-Denkmal? (…) In der Zwischenkriegszeit, unter dem rechtsautoritären Reichsverweser und Hitler-Verbündeten Miklós Horthy, und am Ende des Krieges, unter dem faschistischen Regime der Pfeilkreuzler, erfuhr der Mythenvogel eine weitere symbolische Aufwertung. (…)
(Hungarian Spectrum/nepszava.com)
An die Symbolik der Horthy-Zeit scheint Orbán bewusst anknüpfen zu wollen, wie auch der gegenwärtig laufende Umbau des Parlamentsvorplatzes in Budapest zeigt, der explizit wieder so wie zur Zeit des Reichsverwesers aussehen soll. Da und dort werden bereits wieder neue Horthy-Denkmäler errichtet.
So hat jetzt auch der Turul-Vogel wieder Konjunktur, in der Lesart Orbáns nunmehr auch als Symbol für den „nationalen Zusammenhalt“, was wiederum eine Chiffre für den zumindest moralischen Anspruch auf die nach dem Ersten Weltkrieg im Friedensvertrag von Trianon 1920 – dem nationalen Trauma vieler Ungarn – verlorenen Gebiete darstellt.
(Turul auf Großungarn, Autoaufkleber, Quelle: Internet)
„Die Zeichen lesen“
Orbán will von seinen Anhängern weniger in seinen Aussagen als auf einer symbolischen Ebene verstanden werden:
„Wer sich der Politik verschworen hat, muss aus den Zeichen lesen können. (…) Wer regiert, weiss, dass alles seine bestimmte Zeit hat. Aus den Zeichen weiß er, wann die Zeit zum Reden und die Zeit zum Schweigen ist. (…) Wer die Zeichen der Zeit zu lesen vermag, der kann sie lesen. Eine Welt neuer Gesetze kommt auf den europäischen Kontinent zu. Das erste Gebot dieser im Entstehen begriffenen neuen Welt lautet: Die Starken vereinigen sich, die Schwachen zerfallen, das heißt, die Angehörigen starker Nationen halten zusammen, die der schwachen Nationen laufen auseinander. Ich wünsche jedem Ungarn, dass er Ohren haben möge zu hören und dass er die Zeichen lesen möge.”
Noch ist die Zeit nicht gekommen, die Dinge klar auszusprechen, aber dafür sprechen die Symbole umso lauter. Und nun hat Orbán das Turul-Symbol in die Mitte der Gesellschaft geholt und als Verkörperung einer blutmäßigen Abstammungsgemeinschaft auf dem Territorium von Großungarn legitimiert, wie es bislang so explizit nur die Rechtsextremen taten. Grenzrevision – derzeit noch nicht durchsetzbar, aber nur eine Frage der Zeit und des „nationalen Zusammenhalts“. Man erinnere sich:
„Wenn Fidesz mehr Kräfte sammeln kann und Ungarn in wirtschaftlicher Hinsicht zu einem starken Land wird, dann könnte die Frage nach einer Revision der Grenzen in acht Jahren [2020, 100 Jahre Trianon] offiziell angesprochen werden.“ Diese Ankündigung machte das Mitglied der Regierungspartei Fidesz, Zoltán Kőszegi, Parlamentsabgeordeneter für den Kreis Dabas, Komitat Pest, während eines Lagers der Fidesz-Parteijugend im rumänischen Borzont (…), als es in einer Podiumsdiskussion über Sinn und Möglichkeiten einer wie immer gearteten „Autonomie“ der ungarischen ethnischen Minderheit in Rumänien ging. (Pester Lloyd, 17.8. 2012)
Satansaustreibung der „Fremdherzigen“
Keine Rede ohne Feindbild. Orbán beschwor den Turul angesichts von „zwei Arten von Herzen“ im ungarischen politischen Leben: Die „Magyaren des nationalen Zusammenhalts“ auf ihrem „tausendjährigen Siedlungsraum“ Grossungarn müssten die Spalter und Zwietrachtsäer aus dem ungarischen Leben austreiben wie der Heilige Michael den Satan (vgl. Hungarian Spectrum: Fighting the Devil: Viktor Orbán’s speech on St. Michael’s Day, 30.9.2012.) Wer hier die Rolle des auszutreibenden Satans spielt, wird deutlich durch den Verweis auf ihren „Verrat“ an den „Brüdern“ am 5.12.2004 – gemeint sind die politischen Kräfte und ihre Anhänger, die die Volksabstimmung zur doppelten Staatsbürgerschaft 2004 nicht unterstützten, also Ex-Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány und die „Linksliberalen“ (s.u.).
Orbáns Sprachgebrauch löst Besorgnis aus:
Die Publizistin Zsófia Mihancsik gab zu bedenken: „Wenn der erste Mann der Staatsmacht an die Stelle der politischen Gemeinschaft den ,Blutbund‘ setzt (…), dann bereitet er – gewollt oder ungewollt – den Bürgerkrieg vor.“ (Standard, im Original auf Galamus.hu.)
In seiner Kolumne im rechtsextremen regierungsnahen Magyar Hirlap ereifert sich der antisemitische Hetzer, Orbán-Freund und Fidesz-Mitgründer Zsolt Bayer über eine Turul-Karikatur der linken Népszava, plädiert für ein mythisches Weltbild („Die Realität des Drachen“ versus „die Realität des Flugzeuges“) und stellt den „Mythen-Schändern“ Folgendes in Aussicht:
„Ihr werdet verschwinden. Ihr alle, und für immer. Die Mythen von Drachen und Turul werden euch begraben. Und dann wird die Welt schöner sein.“
Visuelle Parallelen
Orbán enthüllt: Säule 12 m, Flügelspannweite 2 m. (Index.hu)
Aus einem ungarischen Blog:
(wiki)
Letzteres kein heraldischer „Reichsadler“, sondern durch den Bogen in den Krallen als völkischer Turul kenntlich: Das Logo des Ungarischen Anti-Terror-Zentrums (TEK), eine Sondereinheit des Innenministeriums, seit Januar per Dekret mit Geheimdienstbefugnissen.
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Dokumentation: Viktor Orbáns Rede bei der Denkmaleinweihung in Ópusztaszer, 29.9.2012
Quelle: orbanviktor.hu; Übersetzung in Auszügen Gregor Mayer, DER STANDARD, 4.10.2012, ergänzt von Pusztaranger (kursiv).
„Der Turul ist ein Urbild, das Urbild der Ungarn. Wir werden in es hineingeboren, so wie wir in unsere Sprache und Geschichte hineingeboren werden. Das Urbild gehört zum Blut und zum Heimatboden. Von dem Augenblick an, wo wir als Ungarn auf die Welt kommen, schließen unsere sieben Stämme den Blutbund, gründet unser heiliger Stephan den Staat, unterliegen unsere Truppen in der Schlacht bei Mohács, der Turul aber ist das Symbol der nationalen Identität der jetzt lebenden, der schon gestorbenen und der erst noch auf die Welt kommenden Ungarn. (…)
Wer sich der Politik verschworen hat, muss aus den Zeichen lesen können. Die Fähigkeit, Zeichen zu lesen, ist für die Regierungsarbeit unerlässlich. Wer regiert, weiss, dass alles seine bestimmte Zeit hat. Aus den Zeichen weiß er, wann die Zeit zum Reden und die Zeit zum Schweigen ist.
Diese Statue, die wir heute, am Tag des heiligen Michael, einweihen, ist das Denkmal des nationalen Zusammenhalts. Es erinnert daran, dass jeder Ungar jedem anderen Ungarn Rechenschaft schuldig ist. Die ungarische ist eine Weltnation, denn die Grenzen des Landes und die Grenzen der ungarischen Nation fallen nicht zusammen (…).
Zusätzlich wurden Millionen außerhalb unseres tausendjährigen Siedlungsraumes zerstreut, weshalb wir, um eine starke politische Gemeinschaft zu schaffen, den Zusammenhalt stärken müssen. Heute gibt es zwei Traditionen, zwei Auffassungen, zwei Denktraditionen, zwei Arten von Herzen [sic] in der ungarischen Politik [vgl. den Begriff „fremdherzig“ als Code für „jüdisch“]. Die eine lehnt den nationalen Zusammenhalt ab, die andere betrachtet ihn als ihren Ausgangspunkt. Die eine gibt die verlorenen Schafe auf, die andere sucht sie ständig. Die eine spaltet [wörtlich: stellt Menschen gegeneinander], die andere baut die nationale Kooperation auf. Die eine hat am 5. Dezember 2004 ihre Brüder verleugnet, die andere hat zu ihnen gehalten.
[Anm.: vgl.
- Junge Freiheit: Ungarn: Volksentscheid über doppelte Staatsbürgerschaft /Die Überwindung von Trianon/ Bürgerliche dafür / Linke und Liberale strikt dagegen. Freitag, 03.12.2004;
- welt.de: Referendum in Ungarn zur doppelten Staatsbürgerschaft gescheitert, 07.12.04 „Das Scheitern des Referendums galt als ein Sieg für den ungarischen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsany, der dazu aufgerufen hatte, gegen die doppelte Staatsbürgerschaft zu stimmen.“ ]
Der Tag der nationalen Zusammengehörigkeit handelt von uns, denjenigen Magyaren, die jedem Magyaren gegenüber Rechenschaft ablegen. Dieses Denkmal will uns sagen, dass es nur ein einziges Vaterland gibt, und zwar jenes, welches dazu fähig ist, alle Ungarn diesseits und jenseits der Trianon-Grenzen in einer einzigen Gemeinschaft zu vereinigen.
Heute ist der Tag des heiligen Michael. Die Heilige Schrift gibt uns für den heutigen Tag Folgendes auf, ich zitiere: „Und es entbrannte ein Kampf im Himmel: Michael und seine Engel kämpften gegen den Drachen. Und der Drache kämpfte und seine Engel, und sie siegten nicht und ihre Stätte wurde nicht mehr gefunden im Himmel. Und es wurde hinausgeworfen der große Drache, die Urschlange, die da heißt: Teufel und Satan, der die ganze Welt verführt, und er wurde auf die Erde geworfen, und seine Engel wurden mit ihm dahin geworfen.“ Zitat Ende.
(…) Wir kennen die Mittel und die Umstände des Kampfes nicht, nur sein Ergebnis. Dem Satan bleibt kein Platz mehr, weil Michael, der die Liebe, den Dienst und die Heiterkeit verkörpert, ihm keinen gelassen hat. (…) Wir, die Magyaren des nationalen Zusammenhalts, müßten auch auf diese Weise mit unserer Liebe, unserem Dienst und unserer Heiterkeit alles Böse und alle Zwietracht [Lies: die Verursacher der Zwietracht, die Spalter, die politische Opposition und ihre Anhänger auf einer metaphysischen Ebene als das Böse schlechthin] aus dem ungarischen Leben austreiben.
Wer die Zeichen der Zeit zu lesen vermag, der kann sie lesen. Eine Welt neuer Gesetze kommt auf den europäischen Kontinent zu. Das erste Gebot dieser im Entstehen begriffenen neuen Welt lautet: Die Starken vereinigen sich, die Schwachen zerfallen, das heißt, die Angehörigen starker Nationen halten zusammen, die der schwachen Nationen laufen auseinander. Ich wünsche jedem Ungarn, dass er Ohren haben möge zu hören und dass er die Zeichen lesen möge.“
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„Blut und Heimatboden“ im Video bei 1:59 – die regierungsnahen Medien Magyar Nemzet und hírTV sparten diese Formulierung in ihren Berichten übrigens aus.
Ausgezeichnete Arbeit lieber Pusztaranger. Hier noch ein wichtiges Detail. Turul nannte man im Horthyregime eine Vereinigung rechtsextremer antisemitischer Studenten, die Juden und Jüdinnen mit Gewalt aus ungarischen Hochschulen und Universitäten herausprügelten.
So ist es. Zum Turul-Bund siehe Hungarian Spectrum: The Hungarian far-right in 1933: The Pécs section of the Turul Association, October 23, 2009
Horthy scheint aber nicht (immer) zur Zufriedenheit des Turul-Bundes gehandelt zu haben:
“ Der Turul kritisierte Horthy vom Standpunkt des Rassenschutzes aus und verlangte eine gegen Juden und Deutsche gerichtete Politik zugunsten der (ich nehme an: magyarischen) Bauernschaft. In den 30er Jahren traten auch viele linke und kommunistische Studenten dem Bund bei. 1943 zerbrach der Stundentenbund.daran…………. “
Quelle: Homepage des Holocaust-Museums in Budapest (http://www.hdke.hu/node/3020)
Also das ist eine sehr kurze Eintragung über den Turul und wie ich meine adaptiert an die heutige politische Erwartungen der ungarischen Regierung.
Denn Turul war bis zur zweiten Hälfte der dreissiger Jahre eine regierungstreue antisemitische Organisation, die oft genug jüdische Studenten oder vermeintlich jüdische Studenten aus ungarischen Universitäten herausgeprügelt hat.
Wer wirklich interessiert ist darüber mehr zu erfahren, der lese
Kerepeszki Róbert: A Turul Szövetség, 1919-1945, Egyetemi ifjúság és jobboldali radikalizmus a Horthy-korszakban, Atraktor kiadó, 2012
Vielen Dank für die Buchempfehlung. Ich hoffe aber, dass das Kuratorium des Holocaust Közalapitvany (der Vorsitzende ist selbst Historiker und Rabbi) nicht so feige ist, dass es politischen Erwartungen entspricht. Die Eintragung sagt ja über den Turul, dass es eine völkische (und antisemitische) Organisation war, der der Antisemitismus der Horthy-Ära nicht weit genug ging. Und da wird wohl einiges dran sein. Schließlich war die Partei Szalasis unter Horthy sogar verboten. Der Vorwurf an Horthy bzw. seine Regierungen ist ja wohl nicht, dem Volk den Antisemitismus aufgedrückt zu haben, sondern dem Volk nicht die Stirn geboten zu haben.
Die Pfeilkreuzler Partei war tatsächlich einige Zeit verboten, jedoch wurde dieser Partei gestattet an den Wahlen zum Parlament im Mai 1939 teilzunehmen. Sie erhielt damals fast 16% der Stimmen.
Durch die Politik von Horthy und seiner Regierungen „den Wind aus den Segeln“ der Pfeilkreuzler zu nehmen, durch die Juden diskriminierende Gesetzgebung hatten die von Horthy eingesetzte Regierungen Vorarbeit zur von der ungarischen Administration und „Ordnungskräften“ durchgeführten Deportation der allermeisten Juden aus der Provinz nach Auschwitz geleistet.
Wann immer ein Journalist aus Ungarn zurückkommt, und dieses Verbrechen den Pfeilkreuzlern (die nach dem 15. 10.1944 50.000 Juden umbrachten), in die Schuhe schiebt, der wurde fast immer von Fideszleuten informiert. Wie erst unlängst ein Redakteur einer neokonservativen USA Zeitschrift.
Siehe:
http://hungarianspectrum.wordpress.com/2012/10/08/fact-checking-christopher-caldwells-article-on-viktor-orban/
Orban sagt an der Stelle, der Turul gehöre zu Ungarn wie die ung. Sprache und die ung. Geschichte. Er gehöre zum Blut (was auch immer das heißen soll) und zur Heimat (szülöföld meint wohl Heimat und nicht Boden). Wer als Ungar zu Welt komme, für den seien die sieben Stämme, der Heilige Stephan, die Schlacht bei Mohacs usw. sozusagen Familiengeschichte.
Das ist in etwa so, als ob die dt. Kanzlerin eine Hauruckrede hielte und dabei den Zuhörern zuriefe: „WIR wurden seinerzeit bei Liegnitz von den Tataren besiegt und sitzen dennoch heute hier“.
Für Deutsche ist das etwas ungewohnt, weil in Deutschland seit dem Zusammenbruch 45 keiner mehr von Blutsgemeinschaft („Blut ist dicker als Wasser“) spricht, obwohl sich Deutschland übrigens erst in den letzten Jahren vom ius sanguinus, also einem Staatsbürgerrecht, dass sich am Blut (an der Abstammung) orientierte, zu einem Staatsbürgerrecht hinbewegt hat, dass von den Realitäten ausgeht und die Staatsbürgerschaft auch jenen anträgt, die in Deutschland geboren werden (ius soli), ohne deutsche Eltern zu haben.
In Ungarn ist es ja ein altes Streithema, ob Ungarn nur das Land der Magyaren oder das Land verschiedener Nationalitäten war, die unter der ung. Krone lebten. Nach Trianon und der Vertreibung der verbliebenen Minderheiten (bis heute hört man, dass die Schwaben ja nach 45 nur nach Hause „gegangen“ seien) bzw. dem Aufgehen dieser in der Mehrheit kann man wohl sagen, dass die ungarische Bevölkerung noch nie so sehr „Blutsgemeinschaft“ war, wie sie es heute ist. Nichtsdestotrotz darf man sich über so viel „zagyvaság“ natürlich echauffieren (vielleicht muss man es auch, vor allem, wenn man nicht auf Orbans payroll steht).
Ich nehme aber an, dass so etwas in Europa nicht einmalig ist. Wenn die Griechen den Namen Makedonien patentrechtlich schützen lassen wollen und Beihilfen unter Berufung auf die Leistungen des antiken Athens (anfordern, so ist das auch nichts anderes. Immerhin verlangt Orban in der Rede keine Entschädigung für die Trosswagen, die die Magyaren auf dem Lechfeld lassen mussten !!!!!!!! Und er gibt sogar gleich am Anfang zu, dass der Staatshaushalt Not leidet (und trotzdem Geld für diesen Unfug ausgegeben wird).
Besten Dank für die Recherche – wie immer faktisch korrekt aufgearbeitet!