Geplante Verfassungsänderung „legitimiert Willkürherrschaft“
„Die geplante Verfassungsänderung nimmt viele Zugeständnisse im Bereich der Justiz und der Medien zurück, die die Orbán-Regierung unter Druck von EU, Europarat und eigenem Verfassungsgericht zu machen gezwungen war. Jetzt werden die beanstandeten, demokratieschädigenden Bestimmungen einfach Teil der Verfassung.“ (Gregor Mayer)
Der Antrag wurde von allen Fidesz/KDNP-Abgeordneten unterschrieben; am 5.3. wird über die Änderungsanträge der Opposition abgestimmt, ab dem 11.3. könnte es zur Endabstimmung kommen. Das Ungarische Helsinki Committee und das Károly Eötvös Institut appellieren in einem offenen Brief an die Abgeordneten der Regierungsparteien (s.u.), den Antrag nicht zu verabschieden: Das Grundgesetz werde in Zukunft nicht mehr die Rechte der Bürger garantieren, sondern Grundrechtsverletzungen durch die Regierung legitimieren, und es werde keine verfassungsrechtliche Handhabe gegen Regierungswillkür mehr geben.
Im ungarischen Parlament steht eine gewaltige Verfassungsnovelle vor der Verabschiedung, seit dem Inkrafttreten der neuen ungarischen Verfassung vor einem Jahr bereits die vierte; der 15-Seiten-Antrag (Verfassungstext: 45 Seiten) setzt den von Orbán betriebenen Demokratieabbau fort. Die Princeton-Professorin Kim Lane Scheppele analysiert dies präzise im „NYT“-Blog. Unter Anderem kann sich der Verfassungsgerichtshof künftig nicht mehr auf seine Spruchpraxis von vor 2012 stützen. Wie Scheppele herausarbeitet, werden damit wichtige Grundrechte zur Disposition gestellt, die die Verfassungsrichter aus der alten Verfassung abgeleitet haben und die aus der neuen eben nicht so ableitbar sind, darunter etwa das Verbot der Todesstrafe, die Berücksichtigung der Rechte der Frauen bei der Regelung der Abtreibung, das Recht, Politiker zu kritisieren, oder die eingetragene Lebenspartnerschaft von Menschen gleichen Geschlechts. In der Summe nimmt die Mega-Novelle viele Zugeständnisse im Bereich der Justiz und der Medien zurück, die die Orbán-Regierung unter Druck von EU, Europarat und eigenem Verfassungsgericht zu machen gezwungen war. Jetzt werden die beanstandeten, demokratieschädigenden Bestimmungen einfach Teil der Verfassung. (Gregor Mayer auf Facebook, leicht bearbeitet und gekürzt.)
Das ungarische Helsinki Committee und das Károly Eötvös Institut machten am Freitag in einem offenen Brief an die Zweidrittelmehrheit im Parlament auf die fatalen Folgen der geplanten Verfassungsänderung aufmerksam; dort heißt es unter Anderem, das Grundgesetz werde in Zukunft nicht mehr die Rechte der Bürger garantieren, sondern Grundrechtsverletzungen durch die Regierung legitimieren, und es werde keine verfassungsrechtliche Handhabe gegen Regierungswillkür mehr geben. Anhand von Beispielen wird den Fidesz-KDNP Abgeordneten verdeutlicht, welche Konsequenzen dies für ihre Parteien hätte, sollte sie sich nach einem Regierungswechsel mit entsprechender Regierungsmehrheit in der Opposition wiederfinden.
Offener Brief an die Parlamentsabgeordneten der Regierungsparteien
(Zitiert von Galamus.hu, Übersetzung N.N., PR dankt.)
Geehrte Parlamentsabgeordnete der Regierungsparteien!
Als der Verfassungsmäßigkeit verpflichtete Organisationen machen wir Sie darauf aufmerksam, dass die aktuell in Bearbeitung befindliche, neuerliche Verfassungsmodifizierung einen fatalen Schlag gegen die bereits früher erschütterte Verfassungsmäßigkeit Ungarns darstellt. Sie als die Initiatoren dieser Modifizierung bedürfen keiner inhaltlichen Aufklärung. Aus diesem Grund warnen wir Sie in unserem Brief vor den Konsequenzen dieser Modifizierung, die Sie verabschieden wollen, und machen auf Ihre persönliche Verantwortung aufmerksam, wenn diese Konsequenzen eintreten.
Die Anerkennung des Grundgesetzes als Verfassung wurde – wegen der einseitigen Verabschiedung bzw. wegen seiner Verordnungen, die die Idee der Freiheit und Gleichheit verletzen – bereits früher oft in Frage gestellt. Wenn Sie die eingebrachte Verfassungsmodifizierung beschließen, berauben Sie das Grundgesetz unwiderruflich derjenigen Charakteristiken, auf Grund deren es (jetzt) noch als Verfassung betrachtet werden kann. Einem rechtlichen Dokument verleiht nämlich nicht seine Benennung konstitutionelle bzw. Grundgesetzqualität, sondern sein an seine Funktion angepasster Inhalt, seine Erzwingbarkeit und seine Stabilität. Wenn diese Modifizierung zustande kommt, kann das Grundgesetz Ungarns auf Grund keiner dieser begrifflichen Elemente mehr als Verfassung betrachtet werden.
a.) In ihrem Inhalt beschränkte sich die Verfassung auch bisher nicht auf Regeln, die die grundlegenden Rechte geltend machen und die Ausübung der öffentlichen Macht in einen rechtlichen Rahmen fassen, aber die geplante Modifizierung geht auf diesem Gebiet noch weiter: Sie ergänzt die grundrechtlichen Verordnungen, die dem politischen Willen der Regierung Einhalt gebieten, mit zahlreichen Ausnahmeverordnungen. In Folge dessen wird das Grundgesetz die Regierung nicht in Schranken halten, sondern stattdessen Grundrechtsverletzungen durch die Regierung legitimieren. Der Text des Grundgesetzes wird so paradoxerweise (…) nicht die Rechte der Bürger, sondern einzelne Rechtsbeschränkungen durch die Regierung schützen.
b) Mit dieser Modifizierung führen Sie einen neuerlichen Angriff gegen die Institutionen, die dafür verantwortlich sind, die Einhaltung der Verfassung zu erzwingen: Zum Einen beschneiden Sie die Vollmachten des Verfassungsgerichts zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen über den Umgang mit öffentlichen Geldern weiter, zum Anderen beseitigen Sie die verfassungsrechtliche Kontinuität mit der Verfassungsentwicklung der Periode 1989-2011, und heben alle konstitutionellen Bestimmungen auf, die das Verfassungsgericht auf die (…) Verfassung von 1989 aufgebaut hatte.
c) Obwohl das Grundgesetz von seinen Schöpfern mit der deklarierten Absicht der Beständigkeit verfasst wurde, vollziehen Sie mit der in Aussicht gestellten Modifizierung (…) eine aktualpolitische Verfassungsgebung. Zugleich ebnen Sie den Weg für spätere Verfassungsmodifizierungen aller Art, indem Sie ausschließen, dass Verfassungsmodifizierungen mit ähnlichem Ziel in Zukunft vom Verfassungsgericht auf ihre Verfassungsmäßigkeit geprüft werden können. Nach der von Ihnen unterstützten Verfassungsmodifizierung genießen folgende absurde Lebenslagen den Schutz des Grundgesetzes. Bitte erwägen Sie, ob sie das Eintreten der folgenden Situationen für wünschenswert erachten:
Durch die von Ihnen unterstützte Modifizierung (…)
● würde das Zusammenleben eines Waisenkindes mit seiner es erziehenden Tante oder Patenonkel nicht den konstitutionellen Schutz genießen, der der Familie zusteht. (Art. 1.)
● könnte eine zukünftige Zweidrittelmehrheit im Parlament sogar der Ungarischen Katholischen Kirche den Kirchenstatus entziehen, ohne dass dagegen jemand Rechtsmittel einlegen könnte (Art. 4.)
● wird jede politische Kraft, die Ihnen an die Macht folgt, so wie jetzt Sie vor den Wahlen auf allen Plattformen ungehindert Regierungspropaganda verbreiten können, während Sie als Opposition für ihre Gegenkampagne in den (bereits unter dem Einfluss der neuen Regierenden stehenden) öffentlich-rechtlichen Medien nur sehr stark eingeschränkte Möglichkeiten haben werden (Art. 5.)
● wird es möglich sein, verfassungskonform gegen Menschen vorzugehen, die die literarischen Werke ungarischer Klassiker wie Berzsenyi, Petőfi, oder Vörösmarty votragen oder verbreiten, denn die patriotische Dichtung geißelt häufig die Nation, was leicht als Verletzung der Würde der ungarischen Nation aufgefasst werden kann (es folgen Beispiele) (Art. 5.)
● wird den begabtesten, mit staatlicher Finanzierung studierenden jungen Leuten die Fortsetzung ihrer wissenschaftlichen Karriere für bis auf zehn Jahre blockiert; die Talente, die sich der Erforschung von Walen, der Polarforschung, der Tiefseebiologie oder der Ägyptologie widmen wollen, können nicht von ausländischen Universitäten angestellt werden, und werden so auch nicht zum guten Ruf der ungarischen Hochschulbildung beitragen können. (Art. 7.)
● könnte die politische Kraft, die Ihnen an der Macht folgt oder bis dahin aus vergangenen Jahrzehnten zurückkehrt, im Besitz einer entsprechenden Mehrheit schlichtweg alles in der Verfassung festscheiben, z. B. sogar dass Parlamentswahlen nicht alle vier, sondern alle 50 Jahre stattfinden sollen, und das Verfassungsgericht würde nicht imstande sein, dagegen aufzutreten. (Art. 12.)
● wird es möglich sein, an die Spitze des mächtigen administrativen Spitzenorgans der Justiz nach einem eventuellen Rücktritt von Tünde Handó einen mit Ihnen nicht sympathisierenden Richter zu wählen, der (…) die von Ihnen geschaffenen Möglichkeiten zu Willkürlichkeit dann ohne entsprechende Kontrollen nutzen kann. (Art. 13.)
Wenn Sie dann einen Rechtsstreit mit dem Staat haben werden, und eventuell nicht mehr Ihre Partei an der Macht ist, sondern Ihre politischen Gegner mit einer ähnlichen Mehrheit, wird ein solcher Vorsitzender für Ihren Fall nach eigenem Gutdünken ein Gericht zusammenstellen, das mit Ihren Gegnern enge Kontakte pflegt. (Art. 14.)
Ein auf Willkür basierendes Herrschaftssystem können auch Sie nicht wollen. Wir machen Sie darauf aufmerksam, dass die Behebung der hier aufgezählten Absurditäten an sich noch nicht ausreichen würde, um die Verfassungsänderung akzeptierbar zu machen. Wir rufen Sie deshalb auf, nicht für diese Modifizierung zu stimmen.
Budapest, 1. März 2013.
András Kristóf Kádár
Co-Vorsitzender
Ungarisches Helsinki Comittee
László Majtényi
Vorsitzender
Károly Eötvös Institut
Es ist doch kein Wunder, dass Ungarn sich aus diesem sog. „freien“ Europa verabschiedet. Als kleines Volk mit schwieriger Sprache und umgeben von Ländern mit Regierungen, die anti-ungarische Propaganda und Hetze seit 1945 betreiben, muss sich das Land zumindest gegen die total Assimilation und Entrechtung von außen schützen. Das Unrecht, was Ungarn nach dem Zwangszerfall des K&K-Reiches angetan wurde, das schlechte Gewissen, dass bei allen Gesprächen mit den Nachbarn mitschwingt, die unrühmliche, soziale Strukturen zerstörende Rolle der britischen Finanzaristokratie – all dies hat Ungarn schwer zu schaffen gemacht. Es ist an der Zeit und sehr verständlich, dass nun endlich mit der neuen Regierung Ungarn sich all dessen bewusst wird und endlich versucht, wieder frei zu atmen!