Über verpasste Chancen und wahrgenommene Fehler
Gastkommentar von József Berta zur Orbán-Rede auf dem Jüdischen Weltkongress. Der Autor ist Politologe und Kulturwissenschaftler. Er lebt in Berlin. Gegenwärtig befindet er sich auf Forschungsreise in Indonesien.
Die Rede des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán beim World Jewish Congress (WJC) vom vergangenen Sonntag war in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Ein ansonsten stets souveräner Orbán präsentierte sich in ungewöhnlich schwacher Form. Eine Analyse.
Es ist wirklich rätselhaft, wie diese Rede, in dieser Form, mit diesen Formulierungen und Wendungen, sowie in dieser Präsentation zustande kommen konnte. Es könnte beinahe gesagt werden, dass Viktor Orbán, seine Berater und Redenschreiber diese Konferenz nicht begriffen oder nicht ernstgenommen haben.
Aber dafür war die Anspannung im Vorfeld (Orbáns Weisungen an die Behörden und das „Oberste Gericht“ über das Verbot rechtsradikaler antisemitischer Kundgebungen) zu groß. Nicht zu verbergen und damit nicht zu übersehen war sie in der Vorstellungsrunde vor Ort, im Hotel Intercontinental Budapest, beim Eintreffen des Ministerpräsidenten und während der ganzen Rede. Ein Gastgeber, der sich in seiner Rolle wohlfühlt, redet und benimmt sich anders.
Facebook, Mazsihisz (Koszticsák Szilárd / MTI)
Selten lag so viel Furcht (ja, teilweise auch Angstschweiß) in der Luft wie hier. Kaum ist eine Rede oder ein Auftritt von Orbán in Erinnerung (vielleicht das legendäre TV-Duell vor den Wahlen von 2006), wo Orbán so mit der Situation, aber auch mit seiner Stimme zu kämpfen hatte, und das keineswegs aus Ergriffenheit (denken wir an die Rede von Bundespräsident Horst Köhler vor der Knesset). Orbán brachte zwar die obligatorischen Sätze über die ungarische Beteiligung am Holocaust, jedoch ging es ihm um einzelne Individuen, mit denen er jegliche Gemeinschaft ablehnte.
„We are aware that during the course of history there were bad Christians and bad Hungarians, who committed grievous sins.“
Eine Annahme der historischen Gemeinschaft, wie dies z.B. mit den „Opfern des Kommunismus“ im Budapester Museum „Haus des Terrors“ geschieht, wo die Generationen der Vergangenheit eine Schicksalsgemeinschaft mit den Besuchergenerationen bilden, blieb aus. So musste die lange Aufzählung der aus „moralischer Pflicht“ seiner Regierung errichteten institutionellen und institutionalisierten Erinnerung wirkungslos und eben nichts anderes als eine notorische Aufzählung bleiben.
Nochmals: Der WJC tagt nicht in Budapest, weil die institutionelle Erinnerung in einem hervorragenden, durchschnittlichen oder desolaten Zustand ist. Institutionen sind in ihren gegenwärtigen Formen offenbar wirkungslos, wenn es um die Ausbreitung und Dynamik von Antisemitismus, Rassismus, gesellschaftlicher Ausgrenzung und Angsterzeugung geht.
Hinzu kam aber, dass die Berater und Redenschreiber von Orbán wohl kaum mit einer plötzlichen „das Herz rutscht in die Hose“ – Situation rechneten. Genau das ist aber passiert. (…) Fast konnte man sich an einen anderen historischen Auftritt erinnert fühlen, die Israel-Reise von Papst Benedikt XVI. (und auch oder noch eher die des Joseph Ratzinger). „Nichts falsch gemacht und doch die historische Chance verpasst“ – lautete damals die Schlussfolgerung.
Aber nach Viktor Orbáns Rede ist diese Parallele wohl doch nicht haltbar. Ja, hier wurde die Chance verpasst, glaubhaft, vertrauensvoll, vielleicht auch herzlich, auf jeden Fall aber menschlich aufzutreten. Es ist bedauerlich, dass das nicht passiert ist, aber so etwas – könnte man sagen – kann ja mal vorkommen. Aber – und das wiegt wesentlich schwerer – hier wurden gravierende Fehler gemacht.
Es ist kaum nachvollziehbar – und so deutlich und klar war die Formulierung noch nie – wie Carl Schmitts Antagonismus, die Freund-Feind-Unterscheidung ausgedrückt im Gegensatzpaar „gut-böse“, gerade an diesem Ort, in diese Rede Einzug finden konnte:
„In the end, things always become simplified. They are simplified into good and bad. (…) in the final analysis, the world is governed by two types of human intent and actions: good and bad. (…) Anti-Semitism is a state of mind in which evil takes control of people’s thoughts and actions, and this danger also threatens us, Christians.“
Es ist kaum nachvollziehbar, oder wirft zumindest berechtigte Fragen auf, wie man in Orbáns Team auf die Idee kommen konnte, den Talmud, die lebendige Kommentierungsquelle von geltenden jüdischen Gesetzen, mit einem wie auch immer gehandhabten historischen (!) Erbe Ungarns, dem Vermächtnis des Staatsgründers, König Stephan des Heiligen, in Zusammenhang zu bringen, um auf diese Weise ahistorische Gemeinsamkeiten zu konstruieren.
„We still hear in our ears and feel in our hearts the teachings of our first Christian king, with the wisdom we know well from the Talmud. The Talmud teaches: “Hate, evil tendencies and vanity drive men from this world”. Our King, Saint Stephen, wrote to his son: “Always bear in mind that all men are born in a similar state, and it is only humility that lifts him up, and only arrogance and hatred that topples him”.“
Erneut: es mangelt in Ungarn nicht an Quellen institutionalisierter Erinnerung. Sie bleiben aber offensichtlich unbeachtet. Der Verweis auf das neue Grundgesetz (…), das angeblich eben auf diesem Vermächtnis beruht, ist angesichts der Entwicklungen in Ungarn nichts mehr als ein ohnmächtiges Pochen auf ein nicht beachtetes Konstrukt.
Ein wirklich grober Fehler war es, die Gäste der Konferenz auf Ungarisch als „betértek“ zu bezeichnen, bedeutet dies doch im Judentum die Konvertiten. Auch wenn die Übersetzung vorab geklärt und das Wort „Konvertit“ vorab ausgeschlossen wurde, konnte so höchstens im Saal selbst eine negative Wirkung vermieden werden.
Die Aussagen über den zu Fall gebrachten „Kommunismus“ und die überdimensionierten Verdienste von Orbán dabei (was einfach faktisch falsch ist) wurden in den bisher erfolgten Reaktionen auf die Rede wiederholt angesprochen, darum soll es hier nur am Rande erwähnt werden. Wie es auch nur am Rande erwähnt werden soll, dass das Aufzählen von katastrophalen Negativbeispielen – mögen sie „schlimmer“ sein, als die eigene Situation – nicht als Exkulpation hierfür verwendet werden können. Müßig ist der wiederholte Verweis auf radikale Parteien in den Parlamenten anderer europäischer Staaten, um damit die 17% von Jobbik als etwas „Normales“, Europäisches darzustellen. Dies als „Normalität“ zu vermitteln, begünstigt nur das, was Orbán selbst aussprach, dass die „Anständigen“ in Passivität verfallen. Dass Orbán selbst aktives historisches Bewusstsein und proaktives Handeln in der Verteidigung von europäischen Werten einfordert, ist angesichts seiner Politik der vergangenen Jahre einfach unglaubwürdig, um nicht zu sagen eine Farce.
Der ungarische Ministerpräsident sprach im direktem Anschluss an den unmissverständlichen Auftritt des Präsidenten von WJC, Ronald Lauder. Nach Lauders Rede hätte Orbán sein präpariertes Manuskript einfach weglegen können, ja teilweise sogar müssen. Dass er spontan reagieren kann, steht außer Zweifel, er hat das in unzähligen Fällen, auch vor weniger wohlgesinntem Publikum unter Beweis gestellt. Stattdessen klammerte er sich verkrampft an seinem Papier fest und versuchte sich an den Fragmenten altbekannter Sätze abzuarbeiten, und das rettende Ufer war nur die begrenzte Redezeit.
Es ist wohl noch zu früh, um zu sagen, ob dieser Auftritt nur ein Ausrutscher war, oder aber für den Anfang von etwas stehen wird, was wesentliche Veränderungen mit sich bringt. (…) Für diesen Sonntag gilt: Es passte an diesem Tag (und auch im Vorfeld) so gut wie nichts. Nicht die Verfassung Orbáns, die vorbereitete Rede schon gar nicht, wie auch die Ratschläge seiner Berater bezüglich Auftreten und Verhalten. Es war ein in jeder Hinsicht erstaunlicher, teilweise peinlicher, insgesamt enttäuschender Auftritt. Orbán wird ihn wohl so schnell wie möglich vergessen wollen. Und doch wird er sicherlich noch lange von unterschiedlichsten Seiten daran erinnert werden.
Das ist alles richtig.
Aber das Husarenstück ist in Wirklichkeit, dass es Feldmájer als Erster fertiggebracht hat, Orbán international so vorzuführen, wie er ist in all seiner megalomanischen Erbärmlichkeit, indem er den 14. World Jewish Congress in Budapest organisiert hat. Das war genial. Und der WJC ist nicht irgendetwas.
Freischalten: Pester Lloyd tut’s auch, Hungarian Voice sperrt mich je nach Wetterlage, Hungarian Spectrum tut’s nicht – alles ist sofort online, und nur ganz selten muss Éva Balogh einen Rausschmiss androhen. Andererseits weiss ich über viel „Schmutz und Schund“ in den Leserbriefabteilungen z.B. im Guardian, aber auch in der Welt und anderwärts, wo ziemlich ungehobelte ungarische Patrioten ihre schlechten Sprach-, Politik- und Geschichtskenntnisse ausbreiten.
„wo ziemlich ungehobelte ungarische Patrioten ihre schlechten Sprach-, Politik- und Geschichtskenntnisse ausbreiten.“
Das dürfen sie hier schon auch, das Freischalten wurde wegen explizitem Nazi-Spam mit entsprechenden Links eingeführt.
Das leuchtet ein. Danke für die Erklärung.
„Es passte an diesem Tag (und auch im Vorfeld) so gut wie nichts.“ Genau das ist ein Irrtum. Es passt alles, wie die Faust auf das Auge. Die Intention der Rede Orbáns ist sogar in sich schlüssig ohne Widerspruch und der Schweiß auf seiner Stirn, mit der Angst in der Weltöffentlichkeit, entlarvt zu werden.
Orbán steht für seine Partei, für die Politik der Ausgrenzung, und seine Parteigenossen, Bayer, Köver, Balog usw. und seine Partei steht für Orbán. Wer im Parlament Hasstiraden gegen Juden und Roma zulässt und damit unterstützt und gleichzeitig kritische Fragen unterbinden lässt, hat schon längst sein wahres Gesicht gezeigt. Dr. Freud hätte an Orbán und dessen Worte eine wahre Freud. Grüße Don