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Ungarische Polizei erlaubt „friedliches“ Steinewerfen, Aufruf zum Rassenkrieg und antisemitische Hetze unter Gleichgesinnten

5. Oktober 2013

Wenn ein aufgebrachter Nazi-Mob nach Hetzreden von ethnischen Säuberungen  Steine auf von Roma bewohnte Häuser wirft, ist das für die ungarische Polizei kein Straftatsbestand. Genausowenig ist dies öffentliche antisemitische Hetze, wenn sie unter Gleichgesinnten stattfindet. Roma, die friedlich gegen die gängige rassistische Praxis der Polizei protestieren, werden angezeigt. Der strafverschärfende Rassismusparagraph wird ausschließlich gegen Roma angewandt, die sich gegen rechtsextreme Angriffe wehren wollten. Vier aktuelle Fälle.

Fall 1: Devecser: Friedliche Steinewerfer

Am 5. August 2012 forderte Jobbik auf einer Demonstration mit dem Titel „Leben und Leben lassen, Demonstration für rechtmäßigen ungarischen Selbstschutz“ in Devecser die Todesstrafe für Roma. Auf der Demonstration mit etwa 1000 Teilnehmern waren auch zahlreiche andere rechtsextreme Organisationen vertreten. Auf den Redebeiträgen wurde zum Rassenkrieg der Magyaren gegen die Roma aufgerufen:

  • So sagte László Toroczkai, der Anführer der Jugendbewegung 64 Burgkomitate, die  Zigeuner wollten die Magyaren vernichten, es gäbe keine andere Möglichkeit, als den Kampf mit ihnen aufzunehmen;
  • Attila László, der Vorsitzende der Jobbik-Bürgerwehr Schönere Zukunft, sagte, man müsse „einen Aufstand machen und den ganzen Müll, die ganzen kriminellen Parasiten aus dem Land hinausfegen“.
  • Zsolt Tyirityán, der Anführer der Betyársereg, sprach von Rassenkrieg und ethnischen Säuberungen. Die Kriminalität sei „der Zigeunerrasse genetisch eincodiert“, man müsse „den genetischen Abfall aus dem öffentlichen Leben vernichten, aus unserem Lebensraum ausrotten“.

Anschließend zog die aufgepeitschte Menge zum von Roma bewohnten Ortsteil, skandierte „dreckige Zigeuner“ und warf Betonbrocken und Steine auf die Häuser. Im Hof eines der Häuser wurde eine Person verletzt.

Das Ungarische Helsinki Committee erstattete gegen die Redner Anzeige wegen Hetze gegen eine Minderheit.

Am 24.9.2013 hat die ungarische Polizei die Ermittlungen mangels Straftat eingestellt. Aus der Begründung: „Wer hetzt, appelliert nicht an den Verstand, sondern an die primären Instinkte, mit der Absicht, dass die aufgepeitschten Emotionen ausbrechen und unkontrollierbar werden.“ In den obigen Redebeiträgen konnte das Polizeipräsidium des Komitates Veszprém jedoch keine Aussagen feststellen, „die geeignet sind, diese Art nicht durchdachter, instinktiver, feindseliger, schädlicher Äußerungen auszulösen.“ Zwar könne der Inhalt der Redebeiträge auf die Zigeuner (sic) zum Teil beleidigend wirken, was moralisch auch zu beanstanden sei, aber mit strafrechtlichen Mitteln nicht sanktioniert werden könne.

Das Ungarische Helsinki Committee legte gegen den Bescheid Beschwerde ein.
(Quellen: helsinki.hu, Index, Origo, 444.hu)

Zu den Ausschreitungen in Devecser siehe

Video: Steine fliegen – laut der ungarischen Polizei keine Hetze und keine Gewalt (lange Version mit Redebeiträgen hier)

 

Fall 2: Ungarische Polizei erlaubt öffentliche antisemitische Hetze unter Gleichgesinnten

Zsolt Tyirityán, Chef der Jobbik-nahen Neonazi-Miliz Betyársereg (Betyáren-Trupp), erklärte auf einer öffentlichen Kundgebung von Rechtsextremisten in Budapest am Nationalfeiertag 23. Oktober 2012, er wünsche sich eine Regierung, die die Juden „wieder auf Viehwaggons packt und weit weg zum Arbeiten schickt“. Die anti-rassistische Stiftung „Tett és védelem“ (Tat und Schutz) [von der ungarischen Regierung unterstützte jüdische Organisation] erstattete Anzeige wegen Aufhetzung. Die ungarische Polizei lehnte den Antrag ab, wie die Tageszeitung „Népszabadság“ heute berichtete, und zwar mit der folgenden Begründung, die man sich auf der Zunge zergehen lassen möge: „In einem Umfeld, in dem die Beteiligten einmütig die selben Ansichten teilen, kann man nicht von Aufhetzung sprechen, sondern eher von Herstellung von Einverständnis unter den Beteiligten.“ (dpa-Koresspondent Gregor Mayer auf Facebook)
Tyirityáns Rede am 23.10.2012 am Budapester Corvin köz (vor dem Kino). Interessant ab 2.23, Viehvaggons ab 4:30. Erschließt sich auch ohne Sprachkenntnisse.

Kommentar PR: Hier bestätigt es sich nun explizit, bei Hassverbrechen (Volksverhetzung, Landfriedensbruch, Gewalt gegen Minderheiten etc.) operieren die ungarischen Behörden nicht (mehr) auf einem Kanon von Menschen- bzw. Bürgerrechten, ausschlaggebend ist allein die durch die Tat ausgelöste gesellschaftliche „Empörung“. Keine Empörung, kein Straftatsbestand. Aus dem Post Die ungarische Polizei schützt die Volksgemeinschaft vor den Minderheiten, 15. August 2013:

Empörung” kontra bürgerliche Freiheitsrechte

Ein Aspekt, der bislang kaum Beachtung fand, ist die Tatsache, dass in der Formulierung der Paragraphen zu Landfriedensbruch und Gewalt gegen Minderheiten die Strafbarkeit von Handlungen an die durch sie ausgelöste “Empörung und Beunruhigung” gekoppelt wird. (…) Nicht die Handlung an sich ist notwendigerweise strafbar, sondern wird es in erster Linie dann, wenn sich jemand darüber potentiell oder faktisch “empört und beunruhigt”. Keine Empörung, kein Straftatsbestand. Und aufgrund der schwammigen Formulierung operieren die Behörden hier in einem Ermessensspielraum. (…)  nach derselben Logik können die Nachfolgeorganisationen der verbotenen Ungarischen Garde mit polizeilicher Genehmigung im öffentlichen Raum aufmarschieren, wo keine gesellschaftliche Empörung zu erwarten ist – es gibt bei Gardeveranstaltungen so gut wie keine Gegendemonstranten – , bzw. wo die Gardisten sogar mit der Zustimmung der lokalen “Mehrheitsgesellschaft” marschieren, etwa als “Bürgerwehr”.

Fall 3: Roma protestieren vor dem Innenministerium: „Die Polizei soll den Nazis nicht assistieren!“

Gegen die Haltung der Polizei in den genannten Fällen protestierte am gestrigen Freitag ein von der Gruppe „Wir gehören hierher – Roma-Netzwerk“ organisierter Flashmob von etwa 30 Personen vor dem Innenministerium. Danach nahm die Polizei die Personalien des Roma-Aktivisten Jenő Setét auf und erstattete Anzeige, weil der Flashmob als solcher nicht angemeldet und genehmigt war. (NOL, MTI, minimumplusz)

Transparent:  Durchgestrichen: „Wir dienen und schützen“. Stattdessen: „Wir selektieren und schützen“


(minimumplusz)

Fall 4: Rassismusparagraph wird nur gegen Roma angewandt

Die Roma von Sajóbábony wurden vom Gericht in Debrecen in zweiter Instanz rechtskräftig wegen Rassismus gegen Magyaren verurteilt, siehe Hungarian Spectrum: A surprising verdict: the Gypsies are the racists, not the members of the Hungarian Guard, 2.10.2013. Hintergrund siehe ausführlich Post Rassismusparagraph: Wieder Haftstrafen für Roma, 10. Mai 2013 (vgl. tasz).

Schaubild: „Rassismus und Justiz in Ungarn. Seit 2010 verurteilten ungarische Gerichte 21 Personen wegen Gewalt gegen eine Gemeinschaft (Rassismusparagraph).
Links: 21 sagten etwas wie „krepiert, Magyaren!“ (1 Person Budapest 2011, 11 Personen Miskolc 2012, 9 Personen Sajóbábony 2013.)
Rechts: 0 sagten etwas wie „krepiert, Zigeuner!“

(444.hu)

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