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Proteste gegen Nazi-Denkmal, Tag 6/7: Vorladung am Holocaust-Gedenktag

17. April 2014

Verurteilte Freiheitskämpfer von 1956 genießen in der ungarischen Gesellschaft hohen Respekt; für entsprechendes Medienecho sorgte gestern die Vorladung des ehemaligen Abgeordneten Imre Mécs (80) wegen Wandschmierereien und Sachbeschädigung, ausgerechnet am Holocaust-Gedenktag. Er hatte „Gebt uns Demokratie und Freiheit zurück” auf die Baustellenfolie gesprüht. Die offizielle Gedenkveranstaltung zum Holocaust-Gedenktag war kaum besucht.

Update zu den Posts

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(Der Freiheitskämpfer von 1956 und ehemalige Abgeordnete Imre Mécs (80) beim Ausüben einer Straftat. Nol.hu.)

Eine Zusammenfassung der letzten Tage bei der  Wiener Zeitung: Geschichtspolitik: Reichsadler und Erzengel, 16.4.2014, von Kathrin Lauer

In Budapest soll ein Denkmal an die deutsche Besatzung Ungarns errichtet werden. Die ungarische Kollaboration wird damit ausgeblendet, stattdessen das Land als unschuldig dargestellt.
(…) Der betreffende Zaun am Budapester Szabadság-Platz ist seit gut einer Woche Schauplatz der Proteste einer kleinen Gruppe ungarischer Antifaschisten.

(Anm.: Die OrganisatorInnen des Protests legen Wert darauf, sich vom (altstalinistischen) Bund Ungarischer Antifaschisten und Widerstandskämpfer MEASZ abzugrenzen. Sie bestehen auf ihrer Konzeption als gemeinsame Aktion von Zivilen und demokratischen Parteien, die gegen ein gesamtgesellschaftliches Problem demonstrieren, „von dem nicht nur diejenigen betroffen sind, die sich als Antifaschisten bezeichnen“, wobei solche zu den Protesten selbstverständlich willkommen sind.)

Er umgibt den Ort, an dem Ungarns rechtsnationaler Ministerpräsident Viktor Orbán ein umstrittenes Denkmal zur Erinnerung an die deutsche Besatzung Ungarns errichten will. Jüdische Verbände, namhafte Historiker und links-liberale Oppositionsparteien haben das Projekt scharf kritisiert, weil es die Geschichte verfälscht: Es soll einen deutschen Reichsadler darstellen, der einen Erzengel Gabriel angreift, welcher das unschuldige Ungarn symbolisieren soll. (…)
Überwiegend alte Menschen kommen zum Zaun-Abbauen. Initiatorin dieser kleinen Bewegung ist die Theaterdramaturgin Fruzsina Magyar, 60 Jahre alt. Ihr Ehemann Imre Mécs, 80 Jahre alt, ist die graue Eminenz am Bauzaun. Mécs ist in einer anderen Diktatur knapp dem Tod entronnen und war langjähriger Politiker der inzwischen untergegangenen Partei Szdsz (Bund Freier Demokraten). Als oppositioneller Kämpfer im antisowjetischen Ungarn-Aufstand von 1956 war Mécs zunächst von den Stalinisten zum Tode verurteilt worden, später wurde das Urteil in lebenslängliche Haft umgewandelt. 1963 kam er im Zuge einer Generalamnestie frei, in den späten 1980er Jahren schloss er sich den Protestbewegungen gegen das kommunistische Regime an. „Gebt uns Demokratie und Freiheit zurück“, sprühte Mécs jetzt auf die Baustellenfolie – und wurde musste deswegen ebenso wie ein Dutzend weiterer Demonstranten zur Polizei. (…)“

(Der ganze Artikel ist lesenswert, es wird die Geschichte der Holocaust-Überlebenden Alice Fried erzählt, die diese Woche ebenfalls vorgeladen wurde.)

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„1848 – 1867 – 1956 Gebt uns Demokratie und Freiheit zurück“ (Facebook)

Imre Mécs

Freiheitskämpfer von 1956 stehen bei Fidesz (Mária Wittner) und Jobbik (Levente Murányi) für die historische Legitimierung des heutigen „nationalen Freiheitskampfes“.

Der Liberale Imre Mécs (*1933), 1956 zum Tode verurteilt und bis 1963 in Haft (vgl. Eurotopics), ehemaliger Parlamentsabgeordneter (SZDSZ und MSZP), als Vorsitzender des Verteidigungsausschusses des ungarischen Parlaments 1995 Träger der Europa-Ehrenmedaille, vertritt eine andere Geschichtsauffassung.
Mécs in diesem Reuters-Artikel von 2013 zum Horthy-Denkmal, ebenfalls am Freiheitsplatz:

„We have tried and failed so many times to face our past,“ said former liberal lawmaker Imre Mecs, who protested against the statue. „This must happen for us to make any progress lest we will fall further behind the rest of Europe.“

Auf Facebook kolportiert wird sein Kommentar zu seiner Vorladung, „Mir muss man nicht die Fingerabdrücke abnehmen, man braucht nur die alten herauszusuchen.“

Seine Vernehmung auf der Polizeipräsidium des V. Bezirks erfolgte ausgerechnet am 16.4., dem ungarischen Holocaust-Gedenktag. Die DK protestierte gegen seine Vorladung.

Im Unterschied zu den meisten anderen vorgeladenen Demonstranten wurde Imre Mécs entgegen Medienberichten nicht erkennungsdienstlich behandelt.

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(Népszava.hu)

Offizielle Gedenkveranstaltung zum Holocaust-Gedenktag

Zur offiziellen Gedenkveranstaltung der Regierung am Donauufer, an der sonst mehrere tausend Menschen teilnehmen, waren zum 70. Jahrestag nur etwa hundert gekommen, berichten Beobachter auf Facebook, einschließlich Touristen und Medienvertretern, weniger als zur gestrigen Aktion am Nazi-Denkmal.
Auf dem offiziellen Video  der Regierung sind bei der Veranstaltung am Holocaust-Mahnmal „Schuhe am Donauufer“ nur die Politiker  –  der Minister für öffentliche Verwaltung und Justiz Tibor Navracsics und Zoltán Pokorni, Bürgermeister des XII. Bezirks – und Medienvertreter zu sehen, kein Publikum. Auch Staatspräsident János Áder legte seine Blumen ohne nennenswertes Publikum nieder.


(propeller.hu)

Pokorni bezeichnete den Holocaust als „Teil der ungarischen Geschichte“  und betonte, „die Täter waren Ungarn, und die Opfer waren Ungarn, also ist das unsere Angelegenheit“ (Index). Diese angemessene Aussage steht im Widerspruch zur Aussage des Nazi-Denkmals, das Ungarn von jeder Verantwortung am Holocaust freispricht; die übliche doppelte Kommunikationsstrategie.

Navracsics legte Wert darauf, zu betonen, dass die Tradition des ungarischen Holocaust-Gedenktages, der seit 2001 begangen wird, von Zoltán Pokorni begründet wurde; am 16. April 1944 wurde die Ghettoisierung der jüdischen Bevölkerung begonnen.
Das Mahnmal „Schuhe am Donauufer“ bezieht sich allerdings nicht auf diesen Tag, sondern auf die Massenerschießungen durch die Pfeilkreuzler im Herbst 1944 und 1945.

3 Kommentare leave one →
  1. Don Kichote permalink
    19. April 2014 08:24

    Ob sich János Áder verlaufen hat oder mit bester Absicht eines anderen Gedenken widmete? Wir werden es wohl nie erfahren. Nächstes Jahr können wir eventuell so eine Haltung vor dem neuen deutschen Reichsadler, der einen Engel angreift, sehen. Eventuell legt der Papst einen Kranz für den gefallenen Engel ab.

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