Budapest Pride 2014: Teilnehmerrekord und ein paar Gardisten
10 000 Teilnehmer, beste Stimmung, keine größeren Zwischenfälle, doch im Nachhinein die üblichen Mängel: Die Polizei lässt den Rechtsextremen größtmögliche Handlungsfreiheit, die regierungsnahen Medien fungieren als ihr Sprachrohr, die Gerichte geben ihnen Recht.
Mit fast 10 000 Teilnehmern, darunter zahlreiche Sympathisanten, Prominente, Politiker der demokratischen Opposition und unterstützende Botschafter, war der 19. Budapest Pride 2014 der größte aller Zeiten. Er verlief in Hochstimmung und ohne größere Zwischenfälle. Es wird von nur etwa 70 rechtsextremen Gegendemonstranten berichtet. Wegen einer genehmigten Veranstaltung der Nachfolgeorganisationen der verbotenen Ungarischen Garde am Heldenplatz wurde kurzfristig die Marschroute geändert und die Hauptverkehrsstraßen am Heldenplatz bis zum Abend großräumig abgesperrt. Jobbik protestierte mit einem Transparent am Parlament, bislang folgenlos. Nach einem Zwischenfall bei der Parade stellte die Polizei das Verfahren gegen den rechtsextremen Störer ein und ermittelt gegen die beteiligten Pride-Ordner wegen Landfriedensbruch. Der Redebeitrag der neuen Vizepräsidentin des EU-Parlents und Co-Präsidentin der LGBT Intergroup Ulrike Lunacek auf der Abschlussveranstaltung erntete den Beifall der Teilnehmer, wurde von den großen ungarischen Portalen jedoch nur am Rande erwähnt. (Details s.u.)
Presse zum Pride:
- Euronews: Tausende bei Abschlussumzug von “Budapest Pride”
- Euronews-Video
- ggg.at: Budapest Pride ging (fast) ohne Störungen über die Bühne (guter Beitrag, hat sich aus diesem Blog bedient)
- ARD-Studio Wien, Stephan Ozsváth: Budapest Pride 2014: Absperrungen trennen Hass und gute Laune
- Pester Lloyd: Nachspiel zur Budapest Pride: Prügelnde Ordner, Nazis setzen Kopfgeld aus, Regierungspartei: politische Provokation des „Unnatürlichen“
- Fotogalerie hvg
Impressionen aus der Menge:
Die Parade von Oben:
Wie schon im letzten Jahr wurde die Parade von der demokratischen Zivilgesellschaft als Demonstration für eine demokratische, pluralistische Gesellschaft angenommen. Besonders die Empörung über das aktuelle Vorgehen der Regierung gegen die vom norwegischen Kohäsionsfonds unterstützten Menschenrechts- und Transparenz-NGOs brachte der Parade neuen Zulauf.
Von den rechtsextremen Gegendemonstranten, die am Heldenplatz weit entfernt von der Parade die Polizeiabsperrung durchbrachen, bekamen die meisten Teilnehmer nichts mit. Allerdings kam es zu verbalen und tätlichen Übergriffen vor Beginn der Parade; hier kritisieren die Veranstalter die Passivität der Polizei. Auch musste aufgrund der Garde-Veranstaltung auf dem Heldenplatz mit etwa 70 Teilnehmern die Pride-Route geändert werden, und die Dózsa György út und der obere Abschnitt der Andrássy út blieben bis zum Abend gesperrt. Für die lästigen und kostspieligen Verkehrsbehinderungen wird von der Bevölkerung wohlgemerkt der Pride verantwortlich gemacht („Wegen den Schwuchteln wird schon wieder die ganze Stadt abgesperrt…“).
(Originalroute: RTL Klub, Markierungen PR. Gelb: Geänderte Route. Rot: Straßensperrungen bis zum Abend.)
Störung nach Drehbuch?
Am Oktogon kletterte ein Mitglied der rechtsextremen „Jugendbewegung 64 Burgkomitate“ (HVIM) mit einer Tasche unbekannten Inhalts auf einen der Trucks; die Polizei griff nicht ein. Ein Ordner versuchte, ihn herunterzuholen, und rief laut Teilnehmerberichten der Polizei zu, sie sollten jemanden hochschicken. Als diese nicht reagierte, stiegen zwei weitere Ordner hinauf. Zu dritt warfen sie den Störer zu Boden und holten ihn schließlich herunter; einer der Ordner trat mehrfach auf ihn ein. Der Vorfall im Video hier.
(Index)
Laut Informationen des Blogs Kettős Mérce war die Polizei im Vorfeld über den Vorfall informiert; die drei Ordner – keine der 170 ehrenamtlichen BegleiterInnen in Signalwesten, sondern Profis in schwarzen „Security“-T-Shirts – begleiteten den zweiten Truck schon seit dem Anfang der Parade, ohne von den Pride-Organisatoren diesbezügliche Anweisungen bekommen zu haben.
Laut Teilnehmerberichten sahen die unmittelbar am Truck sowie am Oktogan stationierten Polizisten dem Vorfall untätig zu.
Alle vier Beteiligten kamen in Polizeigewahrsam, die Polizei ermittelte zunächst nur gegen den Störer wegen „Unruhestiftung“.
Die regierungsnahe Magyar Nemzet Online titelte „brutale Misshandlung (…) auf der Homosexuellenparade“; das Hetzportal kuruc.info setzte eine Prämie (HírTV: „Belohnung“) von je 100 000 HUF (ca. 320 EUR) auf die Identifizierung der drei Ordner aus (Index); in den rechtsextremen Medien werden sie als „Zigeuner-Garde“ bezeichnet, d.h. der Vorfall als organisierter „rassistischer“ Angriff durch Roma auf einen Magyaren dargestellt.
Das regierungsnahe HirTV ließ in seinem Bericht den prominentesten Gegendemonstranten des diesjährigen Pride, den rechtsextremen Bürgermeister von Érpatak Mihály Zoltán Orosz, ausführlich zu Wort kommen: Er beanstandete, dass nur gegen den Störer ermittelt würde und nicht gegen die Ordner, und kündigte rechtliche Schritte an.
Orosz ist für seine schrillen Auftritte bekannt, deshalb aber keinesfalls zu unterschätzen; aktuell „engagiert“ er sich zusammen mit Jobbik tatkräftig für die Vertreibung der Bewohner eines Romaviertels in Miskolc.
Die Strategie gewaltbereiter rechtsextremer Gegendemonstranten, mit rechtlichen Schritten gegen den Pride vorzugehen, ist aus den vergangenen Jahren zur Genüge bekannt.
Gegen die drei Ordner wird seither wegen „als Gruppe verübten Landfriedensbruchs“ ermittelt, das Verfahren gegen den rechtsextremen Störer wurde hingegen eingestellt. (MNO)
Dies zeigt einmal mehr: Die Polizei lässt den Rechtsextremen größtmögliche Handlungsfreiheit, die regierungsnahen Medien fungieren als ihr Sprachrohr, die Gerichte geben ihnen Recht.
Regierungspolitiker: Pride beleidigt „christliche, national fühlende Menschen“
Die Berichterstattung der regierungsnahen Medien folgte der aus der Vergangenheit bekannten Strategie, sich einen Teilnehmer aus der Menge herauszugreifen, ihn zu skandalisieren und empörte Statements von Regierungspolitikern einzuholen. Dieses Jahr konzentrierte sich die Berichterstattung auf diesen als Priester verkleideten Aktivisten und sein Großungarn-Plakat:
Staatssekretär im Ministerium für Humanressourcen Bence Rétvári (KDNP) erklärte im regierungsnahen HírTV, die Pride-Veranstalter und Teilnehmer forderten Toleranz, zeigten jedoch Christen gegenüber keine. Der Minister für Humanressourcen Zoltán Balog (Fidesz) erklärte, ebenfalls auf HírTV, der Aktivist habe „die christlichen Menschen beleidigt“; zudem bezeichnete er es als „geschmacklos“, dass auf dem Pride die „Landkarte des historischen Ungarn mehrfach beleidigend dargestellt“ worden sei. (MNO)
Jobbik fordert Ermittlungen wegen „Magyaren- und Christenfeindlichkeit“ und eine Entschuldigung der am Pride teilnehmenden Politiker gegenüber den christlichen Kirchen und den 15 Millionen Magyaren (d.h. inkl. Auslandsungarn), berichtet die regierungsnahe MNO.
Wie der Aktivist im Bericht von HírTV ausdrücklich erklärt, persifliert das Plakat mit der Aufschrift „National fühlende Schwanzlutscher“ das Logo und den Slogan der Jobbik-nahen Motorraddivision „National fühlende Biker“, die letztes Jahr zeitgleich mit der Auschwitz-Gedenkveranstaltung “Marsch der Lebenden” in Budapest einen Biker-Korso mit dem Motto “Gib Gas!“ an der Budapester Synagoge veranstalten wollte, vgl. Post.
Das Hetzportal kuruc.info hat inzwischen die Adresse des Aktivisten, seine Facebook-Seite und die Mailadresse seines Arbeitgebers ins Netz gestellt.
Fotos
(444.hu)
Gegendemonstrant Mihály Zoltán Orosz (r) randaliert medienwirksam vor Beginn der Parade mit etwa 40 „Familienschützern“ an der Absperrung
T-Shirts: „Dummheit ist gefährlicher als die Schwulenlobby“ mit dem Konterfei von Orbáns Kulturbeauftragtem Imre Kerényi; er hatte im Mai erklärt, die “internationale Schwulenlobby” aus Theater und Oper vertreiben zu wollen.
Jobbik benutzt die Fassade des Parlaments zunehmend für politische Botschaften: Jobbik-Vize Elöd Novák brachte ein Transparent („Das Parlament will keine deviante Propaganda“) an. Im Februar hatten Jobbik-Abgeordnete dort ebenso medienwirksam wie folgenlos die EU-Fahne aus dem Fenster geworfen.
Gute Stimmung auch bei diesen Anwohnerinnen.
Verbotene Ungarische Garde demonstriert
Vor bzw. während dem Pride demonstrierten wie angekündigt die Nachfolgeorganisationen der 2009 verbotenen Ungarischen Garde in der Budapester Innenstadt, vor dem Innenministerium und auf dem Heldenplatz:
(13.00 Uhr, Erzsébet tér, 444.hu)
Coveranstalter auf dem Heldenplatz war der Rechtsextremist György Budaházy. (Nach Anschlägen gegen linke Politiker 2007 kam er 2009 wegen Terrorverdacht in Untersuchungshaft, 2011-Juni 2014 in Hausarrest, seither wieder auf freiem Fuß.)
(Gardenseite)
Ungarische Medien: Kein Interesse an Ulrike Lunacek
Der Redebeitrag der neuen Vizepräsidentin des EU-Parlaments und Co-Präsidentin der LGBT Intergroup Ulrike Lunacek auf der Abschlussveranstaltung der Parade wurde von den großen ungarischen Portalen nur am Rande erwähnt; die Meldung der staatlichen Nachrichtenagentur MTI, die auch auf den Inhalt der Rede eingeht, wurde nur von einigen oppitionellen bzw. kleineren und regionalen Portalen übernommen (z.B. hier, hier und hier).
Dort heißt es:
Ulrike Lunacek betonte, dass Ungarn ein wichtiges Mitglied der EU sei, deren Grundwerte die Menschenrechte bilden; diese jedoch ständen unabhängig von der sexuellen Orientierung allen EU-Bürgern zu. Es sei außerordentlich wichtig, dass immer mehr LGBTQ-Menschen sich zu ihrer Identität bekannten, denn die Angst sei ein schlechter Ratgeber.
Gleichzeitig drückte Lunacek die Hoffnung aus, dass auch in Ungarn der Anteil derjenigen abnehme, die ihre Mitmenschen mit abweichender sexueller Orientierung nicht akzeptieren. Hierbei leisteten die zivilen Organisationen außerordentlich wichtige Arbeit; eine Arbeit, die eigentlich die Regierungen leisten müssten. Schließlich sagte sie den Pride-Teilnehmern, „auch ihr gehört zu Europa!“
Soweit MTI.
Tatsächlich bezog Ulrike Lunacek implizit Stellung zur aktuellen Zerschlagung der Zivilgesellschaft durch die ungarische Regierung. Sie sagte sinngemäss:
„Die Zivilgesellschaft (LGBT-NGOs, auch solche zur Verteidigung der Roma, oder auch Umwelt- NGOs) macht wichtige Arbeit, die eigentlich die Regierung tun müßte, aber nicht tut. In einer Demokratie ist es wichtig, Unterschiede zu akzeptieren und daran zu arbeiten, die Situation für die Bevölkerung – ganz egal welcher sexuellen Orientierung, welcher Geschlechtsidentität, welcher Hautfarbe, zu verbessern.“ (Quelle: Ulrike Lunacek.)
Kritik an der Arbeit der Polizei
Nicht wegen der Parade (so die öffentliche Meinung), sondern wegen höchstens 30-40 extremistischen Hooligans wurde die ganze Innenstadt abgesperrt, bloggt ein ehrenamtlicher Ordner (ausdrücklich nicht im Namen der Veranstalter); und obwohl mehrere tausend Menschen teilnahmen, war die Polizei nicht in der Lage, den sicheren Zugang der Teilnehmer – an den Eintrittspunkten gab es mehrfach gefährliche Situationen, die Polizei blieb untätig und verhaftete niemanden – , den ungestörten Ablauf der Parade und die ursprünglich vereinbarte Route zum Verlassen der Veranstaltung zu gewährleisten.
Wegen ein paar Dutzend Randalierern wurden mehrere tausend Menschen über lange Zeit in ihrer Versammlungs- und Bewegungsfreiheit eingeschränkt.
Die 25 ehrenamtlichen Ordner im letzten Jahr mussten sich mit Gefahren von außerhalb der Parade nicht beschäftigen, weil es keine gab. Die diesjährigen 170 Ordner hingegen waren vor Beginn der Parade größtenteils damit beschäftigt, Menschenketten zu bilden und die eintreffenden Teilnehmer von den Rechtsextremen wegzulotsen, die vor den Eintrittspunkten zirkulierten, und ihnen wenn nötig den Weg zu verstellen, im Wissen, dass sie im Ernstfall nicht auf die Polizei zählen konnten – darunter auch jede Menge junge Frauen, die gewalttätigen Übergriffen von Neonazis nichts entgegensetzen können.
Dieser Beitrag floss mittlerweile in die Presseerklärung der Pride-Veranstalter zu den diesjährigen Versäumnissen der Polizei ein.
Trackbacks