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Heim ins Reich – Großungarische Ambitionen

4. Oktober 2013

Die ungarische Regierung bemüht sich um die Auslandsungarn. Dazu gehören nicht nur völkische Veranstaltungen wie der »Székler Schnellzug«, sondern auch der Ausbau des Wirtschaftsraums im Karpatenbecken. Der folgende Text erschien in der Jungle World Nr. 40, 2. Oktober 2013. Hier die ungekürzte Version mit Belegen.

Heim ins Reich – Großungarische Ambitionen

Man stelle sich vor: Ein von der deutschen Regierung unterstützter Sonderzug der deutschen Bahn fährt ins Elsass. An den deutschen Bahnhöfen stehen Schulklassen und winken ihm mit Deutschlandfähnchen zu. Nach dem Passieren der Grenze winken die Reisenden aus allen Fenstern mit Deutschlandflaggen, Reichskriegsflaggen und vereinzelten NPD-Fahnen, die Elsässer winken zurück. An jedem größeren Bahnhof wird Halt gemacht, die Reisenden von Elsässer Trachtengruppen mit Blaskapelle, Brot und Schnaps begrüßt. Bürgermeister halten Ansprachen. Deutsche und Elsässer gehören einem Volk an, das Elsass sei urdeutsches Gebiet, auf dem sich deutsches Wesen heute am Ursprünglichsten erhalten habe, aus der heutigen Bundesrepublik komme man hierher nach Hause. Auf dem zentralen Festakt in Straßburg vor 500 000 Menschen – darunter vereinzelte NPD-Anhänger und andere Rechtsextreme, teils in Uniform – feiern Bundespräsident Joachim Gauck, der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer und die ganze CSU-Bundestagsfraktion unter rechtsextremen Flaggen der Nazizeit die Einheit des deutschen Volkes in den tausendjährigen Landesgrenzen. Die französische Polizei hält sich sehr zurück, um keine Ausschreitungen und diplomatischen Verstimmungen zu provozieren. Außerdem handelt es sich hier nicht um eine politische Veranstaltung, sondern um eine katholische Wallfahrt.

Dieses Szenario findet so jedes  Jahr an Pfingsten im Rahmen der Marienwallfahrt von Csíksomlyó/Şumuleu Ciuc im Széklerland statt, das vor 1920 und 1940-44 zu Ungarn und heute zu Rumänien gehört. Heute ist es die Region mit dem höchsten ungarischen Bevölkerungsanteil in Rumänien und somit von besonderem Interesse für die ungarische Regierung. Die jahrhundertalte traditionelle katholische Marienwallfahrt der Székler hat sich seit der Wende und besonders in den letzten Jahren zu einem völkisch-nationalistischen Woodstock mit 500 000 Teilnehmern, Auslandsungarn aus aller Welt ausgewachsen („Das größte Magyarentreffen der Welt“), die im Rahmen der religiösen Veranstaltung gemeinsam das Trianon-Trauma von 1920 und die Volksgemeinschaft in den tausendjährigen Grenzen zelebrieren.

Video: Eine halbe Million Ungarn aus aller Welt singen bei der Pfingstmesse 2013 von Csíksomlyó/Rumänien gemeinsam die „Széklerhymne„.

Dabei gedenkt man zunehmend der Zeit 1940-44. Reichsverweser Miklós Horthy war seinen Bund mit Nazideutschland eingegangen, um die 1920 verlorenen Gebiete wiederzubekommen. Nach dem 2. Wiener Schiedsspruch fiel Nordsiebenbürgen 1940 an Ungarn zurück; ungarische Truppen marschierten ein und wurden von der Bevölkerung jubelnd empfangen. In den so „zurückgekehrten“ Gebieten wurde zügig mit der Deportation der jüdischen Bevölkerung durch die ungarische Armee und örtliche Behörden begonnen, ihr Besitz vom ungarischen Staat beschlagnahmt. Von den etwa 150 000 Deportierten kamen bis 1946 etwa 20 000 aus Auschwitz zurück. (1)

Den Pilgerzug „Székler Schnellzug“, Sonderzug der Ungarischen Staatsbahnen, gibt es seit 2008; seit 2010 ist er ökumenisch, unter der Schirmherrschaft des ehemaligen reformierten Bischofs, EU-Abgeordneten und Vorsitzenden des Siebenbürger Nationalrats, László Tőkés, Orbán-Verbündeter und einer der wichtigsten politischen Führer der Rumänienungarn.

Der „Székler Schnellzug“ (2) hat sein explizites historisches Vorbild im gleichnamigen, 1943-44 verkehrenden Schnellzug durch Nordsiebenbürgen, der Budapest mit dem neu „zurückgekehrten“ östlichsten Teil des ungarischen Reiches verband, mit 750 Kilometern damals die längste Bahnstrecke Ungarns. Das diesjährige Bordmagazin des Pilgerzuges ist illustriert mit Fotos vom Einmarsch der ungarischen Truppen in Nordsiebenbürgen 1940, die von den Einheimischen jubelnd empfangen werden (PR dankt N.N. für Hinweis und Fotos).

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(Titelseite des diesjährigen Bordmagazins. Der Lokführer trägt ein Großungarn-T-Shirt der Jobbik-Hausband Kárpátia, die auch irredentistische ungarische Soldatenlieder der Horthy-Zeit im Repertoire hat. )

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(Detail Bordmagazin S.3, ganze Seite hier. Das dort abgedruckte Gedicht „1940: Nordsiebenbürgen kehrt zurück“, Stil und Inhalt nach ein Soldatenlied über den heldenhaften Einmarsch der ungarischen Armee, sowie die Fotos wurden offenbar von der irredentistischen Seite „Siebenbürgen ist zurückgekehrt“ übernommen, die zum 70. Jubiläum des 2. Wiener Schiedsspruchs eingerichtet wurde. Dort findet sich u.A. das Logo des rechtsextremen Hetzportals Kuruc.info.)

In dieser Tradition verstehen sich auch die für die Pilger aus dem „Mutterland“ an den Haltepunkten inszenierten (und im Komplettpaket gebuchten und bezahlten) Empfänge durch Einheimische – Jubel, Trachtengruppen, Brot und Schnaps.

(Im Video ab 6:10-6:45; ab 7:38: Ankunft des Pilgerzuges an der „Tausendjährigen Grenze“, dem östlichsten Punkt des Königreichs Ungarn in Gyímesbükk/Ghimeș-Făget, in den letzten Jahren verstärkt zum Magneten für „mutterländischen“ Massentourismus ausgebaut. Hier wird im katholischen Gewand zum „tausendjährigen ungarischen Reich“ gepilgert.)

An der zentralen Veranstaltung der Wallfahrt, der Messe am Pfingstsamstag, nahmen dieses Jahr der ungarische Staatspräsident János Áder, der Vizepremier und KDNP-Vorsitzende Zsolt Semjén und die gesamte Fraktion der Christlich-Demokratischen Volkspartei KDNP, des kleinen Koalitionspartners der Fidesz-Regierung teil. Die Messe wurde live von DunaTV, dem Sender des ungarischen Staatsfernsehens für die Auslandsungarn übertragen; vor der Bühne groß und weithin sichtbar drei Flaggen: Die ungarische Fahne, die rot-weiß-gestreifte Arpadenfahne, sowie die blau-goldene Széklerfahne.

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Die bislang rechtsextrem konnotierten Arpadenstreifen als Symbol der tausendjährigen Staatlichkeit Ungarns sind nunmehr vom ungarischen Staatspräsidenten legitimiert und mainstreamfähig. Die Széklerfahne – 2004 vom Székler Nationalrat erfunden und 2009 von den Széklergemeinden übernommen – steht für die Forderung nach Gebietsautonomie des Széklerlandes – dem nationalistischen ur-ungarischen „Kernland“, wo sich ungarisches Wesen angeblich am Reinsten erhalten hat.

Im März hatte die Széklerfahne an öffentlichen Gebäuden in Siebenbürgen für diplomatische Verstimmungen zwischen Ungarn und Rumänien gesorgt; prompt demonstrierten über zehntausend Rumänienungarn, verstärkt von Teilnehmern aus Ungarn, Südtirol, dem Baskenland und Katalonien – inklusive Jobbik, der Jugendbewegung der 64 Burgkomitate HVIM und anderen Rechtsextremen – in Targu Mures für territoriale Autonomie. (3) Seither wurde an vielen ungarischen Rathäusern im „Mutterland“ die EU-Fahne durch die Széklerfahne ersetzt.

Wer als Ungar aus dem „Mutterland“ nach Csíksomlyó pilgert, tankt dort Volksgemeinschaft und träumt von einer großungarischen Wiedervereinigung wie beim deutschen Mauerfall. Je nach Ausrichtung bleibt diese spirituell und emotional und wird durch solche Veranstaltungen verwirklicht, oder wird als politisches Projekt betrieben, dessen Verwirklichung noch aussteht.

Ungarischer Wirtschaftsraum Karpatenbecken

Die Orbán-Regierung gab den Auslandsungarn das Wahlrecht und pumpt seit 2010 ungarische Steuergelder in die Institutionen der ethnischen Ungarn in Rumänien, wo die meisten Auslandsungarn leben. So stellte sie den ungarischen Universitäten in Siebenbürgen 2012 vier Mrd. Forint (ca. 13,3 Mio. Euro) zur Verfügung – auszahlbar bis Ende 2014, ein halbes Jahr nach den ungarischen Parlamentswahlen.(4) Doch geht es hier nicht nur um kurzfristigen Stimmenkauf. Mit ihrem Wekerle-Plan hat die ungarische Regierung 2012 eine eigene „Wachstumsstrategie für die ungarische Wirtschaft im Karpatenbecken“ verabschiedet, gezielte ethnische Wirtschaftsförderung in den Nachbarländern. Dieser Plan wird als rein ungarische Angelegenheit betrachtet und wurde nicht mit den Regierungen der jeweiligen Nachbarländer abgestimmt. (5) Bei der Anerkennung des Széklerlandes als autonomer Region spielt natürlich vor allem der Zugang zu EU-Geldern eine Rolle.

Neben dem langfristigen Ausbau der ungarischen Wirtschaftssphäre ist der ungarische Staat offenbar auch strategisch daran interessiert, in Siebenbürgen eine konzentrierte ethnisch homogene Region zu schaffen, mit der dann gezielt kooperiert werden soll. Ein Indiz dafür ist der von Jenő Szász, dem Leiter des Nationalstrategischen Forschungsinistituts der ungarischen Regierung eingebrachte Vorschlag, die in Siebenbürgen verstreut lebenden Ungarn („Menschen von nationalstrategischem Wert“) sollten ihre Gebiete kontrolliert aufgeben und konzentrierter angesiedelt werden (6) – also im Széklerland. Der Vorschlag stieß bei den Rumänienungarn auf Ablehnung, aber zeigt, worüber von den Verantwortlichen der ungarischen „Nationalitätenpolitik“ derzeit nachgedacht wird. Diese Region wird von Ungarn aus ethnisiert und langfristig aufgebaut.

Autonomie der Auslandsungarn als Wahlkampfthema?

Die diversen politischen Parteien der Rumänienungarn versuchen derzeit legitim wie vergeblich, ihre Autonomie im Rahmen der EU zu verwirklichen. Dieses Jahr wurden bereits zwei diesbezügliche EU-Bürgerbegehren abgewiesen, das eine eingereicht vom eher rechtsextremen Székler Nationalrat, das andere von der gemäßigten Demokratischen Union der Ungarn in Rumänien (RMDSZ) als EU-übergreifendes Paket zum Minderheitenschutz in Kooperation mit der Föderalistischen Union Europäischer Volksgruppen (FUEN). (7)
Als Letzteres im September abgelehnt wurde, erklärten die Ungarische Volkspartei Siebenbürgens und der Ungarische Nationalrat Siebenbürgens sofort, in Kooperation mit ungarischen Organisationen des Karpatenbeckens unter der Ägide von László Tőkés nun ihrerseits ein solches EU-Bürgerbegehren zu erarbeiten (8), die vom Székler Nationalrat im Oktober geplanten Massendemonstrationen nach katalanischem Vorbild (9) zu unterstützen und auch selbst Proteste zu veranstalten.(10)
Ein solches für den Oktober geplantes EU-Bürgerbegehren kündigte der Vizepräsident des ungarischen Parlaments, Sándor Lezsák bereits am diesjährigen Trianon-Gedenktag im Juni an. (11) Abgewickelt wird es nun offenbar von den rumänienungarischen Trabanten.
Im rumänischen Wahljahr 2012 unterstützte die Orbán-Regierung die Ungarische Volkspartei Siebenbürgens und den Ungarischen Nationalrat Siebenbürgens mit fast einer Million Euro ungarischer Steuergelder. (12) László Tőkés, der Vorsitzende des Ungarischen Nationalrats Siebenbürgens, kommuniziert die Autonomie des Széklerlandes explizit als Wiedergutmachung für die ungarischen Gebietsverluste durch Trianon 1920 (13), und spricht sinngemäß von einem „seit 93 Jahren andauernden“ Mord am ungarischen Volk. (14) Im Sommer 2013 forderte er Viktor Orban auf, Siebenbürgen nach dem Muster Südtirols als „Protektorat“ Ungarns zu behandeln. (15)

Die Ankündigung des EU-Bürgerbegehrens für den Oktober legt nahe, dass die ungarische Regierung das heikle Thema „Autonomie der Auslandsungarn“ für den ungarischen Wahlkampf nutzen will.

 Anmerkungen

1 http://beszelo.c3.hu/cikkek/erdely-es-a-holokauszt
2 http://www.szekelygyors.hu
3 http://www.pesterlloyd.net/html/1311szeklerautonomie.html
4 http://hvg.hu/vilag/20121003_Negymilliardot_nyomnak_az_erdelyi_felsook
5 http://www.kormany.hu/hu/nemzetgazdasagi-miniszterium/belgazdasagert-felelos-allamtitkarsag/hirek/wekerle-terv
6 http://www.maszol.ro/index.php/belfold/8822-szasz-jeno-sokkol-a-kmkf-ulesen
7 https://www.fuen.org/de/news/einzelansicht/article/we-pushed-the-button-minority-safepack-initiative-submitted/
8 http://polgarportal.hu/hirozon/2517-karpat-medencei-polgari-kezdemenyezes-a-kisebbsegekert
9 http://autonomia.szilagyiakos.com/
10 http://www.neppart.eu/strategiavaltasra-van-szukseg-a-kisebbsegi-erdekervenyesitesben.html
11 http://galamus.hu/index.php?option=com_content&view=article&id=214702&catid=9&Itemid=66
12 http://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/1390941/Ungarische-Steuergelder-fuer-UngarnParteien-in-Rumaenien
13 http://kdnp.hu/roviden/trianonert-cserebe-autonomiat-kert-tokes-laszlo
14 http://hvg.hu/itthon/20130602_Tokes_Laszlo_Trianon_93_eve_tarto_gyilkos
15 http://www.adz.ro/artikel/artikel/toekes-hat-einen-wunsch-protektorat-siebenbuergen/

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