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Antisemitische Hetze im ungarischen Parlament: Jobbik und der Ritualmordprozess von Tiszaeszlár

10. April 2012

Der Standard: Grass-Kontroverse: Juden im Visier
Kolumne | Paul Lendvai, 09. April 2012 18:27

(…) Ein Abgeordneter der rechtsradikalen Jobbik-Partei, Zsolt Baráth, hat am vergangenen Dienstag im ungarischen Parlament den 130sten Jahrestag des berüchtigten Ritualmordprozesses von Tiszaeszlár für eine antisemitische Hetzrede benützt. Damals (1882) hatten Ministerpräsident Kálmán Tisza, der greise Graf Gyula Andrássy und der Freiheitsheld der 1848er-Revolution, Lajos Kossuth, aus der Emigration die antisemitische Agitation am schärfsten verurteilt. Le Monde bezeichnete den skandalösen Vorfall als beispiellos im Parlament eines EU-Staates. Abgesehen von einer kurzen Replik des Staatssekretärs Janos Fonagy, hüllt sich Ministerpräsident Viktor Orbán, zumindest bisher, in Schweigen. (Paul Lendvai, DER STANDARD, 10.4.2012)

Eine Ritualmordlegende (auch: Blutanklage, Blutbeschuldigung, Blutgerücht, englisch blood libel) sagt gesellschaftlich diskriminierten Minderheiten – meist Juden – Ritualmorde an Angehörigen einer Mehrheitsgruppe nach. Sie dient zur Verleumdung der behaupteten Täter, rechtfertigt und verstärkt ihre Unterdrückung und Verfolgung. Ihre Kolporteure greifen oft unaufgeklärte Entführungs-, Unglücks- oder Tötungsfälle auf, besonders von Kindern, und bieten dafür Sündenböcke an. Solche Legenden sind nicht nur als im Aberglauben verwurzelte Volkssagen anzutreffen, sondern werden auch von religiösen, staatlichen, regionalen oder lokalen Interessengruppen gezielt zur Propaganda konstruiert und genutzt. Oft bewirken sie Pogrome, Lynch- und Justizmorde an den des Ritualmords beschuldigten Gruppen. (wiki)

Die Affäre von Tiszaeszlár war ein 1882 bis 1883 durchgeführter, mit dem Freispruch der jüdischen Angeklagten beendeter Ritualmordprozess im nordöstlichen Ungarn, der zum Anlass massiver Agitation wurde und den modernen politischen Antisemitismus in Ungarn begründete. (wiki)

Kurzversion der Wortmeldung des Jobbik-Abgeordneten Zsolt Baráth vom 3.4.2012, sinngemäß:  Die jüdischen Mörder der vierzehnjährigen Eszter Solymosi, von deren Schuld der Richter überzeugt war,  mussten freigesprochen werden, weil das internationale Finanzjudentum dem unabhängigen ungarischen Gericht mit dem wirtschaftlichen Ruin Ungarns drohte. Da die sogenannte  „neue Weltordnung“ Ungarn nach wie vor und heute mehr denn je bedroht, hat dieser Fall („Meilenstein der Geschichte Ungarns“) nichts von seiner Aktualität verloren und ist würdiger Anlass für einige Gedenkminuten im ungarischen Parlament.  (Die Wortmeldung im Volltext unten.)

Der Vorfall löste in Ungarn grosse Empörung aus, die Regierung und alle Parteien außer Jobbik distanzierten sich, die Opposition fordert Baráths Rücktritt.  Ein Kommentar in Kürze auf diesem Blog.

Links:

Redetext auf Jobbik.hu, Übersetzung N.N., Pusztaranger dankt.

„Geehrtes Haus,

Ich bitte meine Kollegen Abgeordneten, mit mir in den nächsten Minuten Eszter Solymosis zu gedenken. Zur gleichen Zeit – ebenfalls im Zeichen dieses Gedenkens – müssen wir Anklage erheben gegen den Geist, der auch seither, seit 1882 kontinuierlich in unserem Leben und im Karpatenbecken präsent ist.

Wer war Eszter Solymosi? Ein vierzehn Jahre altes Dienstmädchen, das heuer vor 130 Jahren, am 1. April 1882 in Tiszaeszlár, einem kleinen Dorf bei Tokaj, in der Nähe von Olaszliszka verschwunden ist. (Anm.: Durch die Erwähnung von Olaszliszka wird an den Mordfall Szögi* 2006 erinnert und ein Zusammenhang zwischen „Zigeunerkriminalität“ und „Judenkriminalität“ hergestellt.)  Erinnern wir uns an die bis heute ungeklärten Umstände ihres Verschwindens, an die bis heute unbeantworteten Fragen, und die Folgen, die wir heute immer dringlicher beim Namen nennen müssen.

Eszter Solymosi wurde von ihrer Bäuerin zum Krämer am anderen Ende des Dorfes geschickt, um blaue und gelbe Farbe zum Tünchen vor Ostern zu kaufen, unterwegs aber verschwand sie und wurde nie wieder gesehen. Im Bewusstsein der Menschen leben mehrere Versionen dessen, was mit ihr passiert sein konnte, aber keine dieser Versionen konnte bewiesen werden. Laut der bekanntesten Version machten die Dorfbewohner die Juden verantwortlich, und mehr als das, verdächtigten sie der Ermordung des Mädchens, weil Eszter Solymosi zuletzt in der Nähe der Synagoge gesehen wurde. Das wurde auch von einem Augenzeugenbericht unterstützt, und die missverstandene Solidarität, die Bemühungen zur Vertuschung der Sache bekräftigen den Verdacht noch mehr. Laut einer anderen Erklärung wurde Eszter Solymosi als Donor zur Behandlung eines reichen, todkranken Großgrundbesitzers verwendet. Wie wir sehen, gibt es keine eindeutige Erklärung, wir wissen nicht, was mit Eszter geschehen ist, aber was alle bekannten Versionen gemeinsam haben, ist, dass die damalige Führung des Landes und das Judentum in der Angelegenheit schwer belastet (wörtlich: betroffen) waren.

Nach einer fast ein Jahr dauernden Untersuchung, landesweiter Empörung und Pressekampagne begann 1883 die Hauptverhandlung im Komitatsrathaus von Nyíregyháza in Anwesenheit der gesamten Weltpresse. Der Richter Ferenc Korniss suchte die Mörder, wollte auf Mord urteilen, was von einer Reihe unmittelbarer Beweise und Indizien untermauert wurde. Der Richter war sich sicher, dass Eszter Solymosi von den Angeklagten ermordet wurde, war aber auf Druck von Außen gezwungen, sie freizusprechen. Was konnte eine solche Wirkung auf den unabhängigen ungarischen Richter haben? Wäre er nicht so verfahren, hätten diejenigen Kreise (Anm.: Antisemitischer Code), die die Ökonomie der Welt und unserer Heimat auch damals schon im Griff hatten, keine Rentenkonversion – die Änderung der Zinsen von Anleihen auf eine längere Frist (Umschuldung) durchgeführt. Dies hätte den wirtschaftlichen Ruin Ungarns, den Wertverfall des Forint bedeutet.

Selbst wenn dies kein zufriedenstellender Beweis sein sollte, können wir trotzdem aufgrund  zahlreicher Beweise davon ausgehen, dass kein einfacher Mord geschehen war. Als Beispiel soll hier der Dichter József Erdélyi stehen, der fünfzig Jahre nach dem Tod ein Gedicht über Eszter Solymosi geschrieben hat, und danach wegen Schürung von Hass zwischen den Religionen zu zwei Wochen Arrest verurteilt wurde. Fünfzig Jahre nach dem Tod von Eszter… Was konnte das schreckliche Geheimnis sein, das auch noch nach einem halben Jahrhundert solche Wirkung hatte?

Erinnern wir uns an Eszter Solymosi, und sprechen wir es aus: Ihre Ermordung war ein Meilenstein in der Geschichte Ungarns. Es war ein Meilenstein, denn da erbebte die Erde unter dem ungarischen Staat und der ungarischen Rechtsprechung. Ein Meilenstein, weil sich seit 1883 bis heute das Phänomen hält, dass die Abstammung, die religiöse Zugehörigkeit der Täter nicht genannt werden kann. Ein Meilenstein, weil von diesem Zeitpunkt an zu beobachten ist, wie die Macht der „neuen Weltordnung” (Anm.: Antisemitischer Code) in unserer Heimat immer mehr zur Geltung kommt, bzw. wie die Diener dieser „neuen Weltordnung” ihren Bestrebungen immer unverhüllter nachgehen.

Dadurch, dass wir Eszter Solymosi, diese kleine Gänsehirtin verlassen haben, sind auch wir alleine geblieben. Und es ist an der Zeit, dass wir für uns selbst einstehen, und ich denke, manchen in diesem Saal wird der folgende Satz bekannt sein: „Die Macht der Welteroberer können wir nur durch das Aussprechen der Wahrheit brechen!”

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.“

*

Baráth verwendet zwar die üblichen Umschreibungen („gewisse Kreise“,  „neue Weltordnung”), aber mit seinem letzten Satz über die „Macht der Welteroberer“ (4:23 A világhódítók hatalmát csak az igazság kimondásával lehet megtörnünk!) bietet er seinem Publikum einen klaren Interpretationsrahmen an. Es handelt sich dabei um ein Zitat von Lajos Marschalkó (1903-1968), einem völkischen Schriftsteller der Horthy-Zeit, der sich auch im Exil als glühender Antisemit betätigte, und stammt aus seinem antisemitischen Pamphlet „Weltterror – Weltherrschaft“ (Világterror-világuralom“) von 1967, auf Ungarisch 1997 neu aufgelegt und im Internet abrufbar. Es beginnt so:

(…) Die Welt hat ein Problem, von dem niemand zu sprechen wagt. Die christliche Welt unterliegt einem unberührbaren Tabu. Sie hat ihre heiligen Kühe, die genausowenig berührt werden dürfen wie die heiligen Affen Indiens.
Dieses Problem ist die Judenfrage.
(…) Hitler und Rosenberg suchten die Lösung der Judenfrage auf einem falschen Weg, als sie die Frage auf eine rassische Grundlage stellten. (…) Die Schlüssel zur Judenfrage ist nicht auf rassischer Grundlage, sondern auf Grundlage der Macht(strukturen) zu suchen. (…)

Auf Jobbik.hu wurde der Text von Baráths Rede mit einem musikalischen Kommentar eingestellt, dem Lied “Du weinst umsonst – das Blut von Eszter Solymosi” der Skinhead-Band Egészséges Fejbőr (Gesunde Kopfhaut). Darin heisst es:

„Trotzdem findet das Auserwählte Volk keine Ruhe, die alte Schuld drückt ihm aufs Gewissen: Sie ermordeten Eszter Solymosi wie ein unschuldiges Gänseküken. Ihr Blut floss und speiste fremde und parasitäre Geschäfte. Eszter Solymosi, du weinst umsonst. Die ganze Welt hat dich im Stich gelassen. So wie dein Volk verlassen wurde und dein verwaistes, in Ketten liegendes Vaterland vernichtet wird.“

(…) Mégsem nyughat a választott nép, nyomja a lelkét a régi vád: Úgy ölték meg Solymosi Esztert, mint pihés, kicsi libát. Kiömlött és virult belőle idegen, élősdi bolt. (…) Solymosi Eszter hiába sírsz, cserben hagyott a nagy világ, Mint ahogy, pusztuló néped, s láncravert árva hazád.)

(Auf youtube hier, der vollständige Liedtext hier.)

*

Zsolt Baráth ist Grundschullehrer und Sozialpädagoge. (Abgeordnetenseite)

*

Anm.:
*) (…) Es (ist) der Jobbik-Partei gelungen, den Begriff „Zigeunerkriminalität“ im öffentlichen Bewusstsein fest zu verankern. Das Thema stand auch ganz am Anfang des spektakulären Aufstiegs der Partei – sie schlug dabei Kapital aus einem furchtbaren Verbrechen: Im Herbst 2006 wurde ein Lehrer aus der ostungarischen Stadt Tiszavasvári im nahegelegenen Dorf Olaszliszka von einer Gruppe Roma zu Tode geprügelt, nachdem er ein Roma-Mädchen angefahren hatte. Die Familie glaubte, ihre Tochter sei tot – in Wirklichkeit war sie kaum verletzt und hatte sich nach dem Unfall nur versteckt. Der Mann wurde vor den Augen seiner beiden minderjährigen Töchter von dem Mob gelyncht.
Der Mord erschütterte die ungarische Gesellschaft und führte zu einem radikalen Stimmungsumschwung in der Öffentlichkeit. Die 700.000 Roma, eine sehr heterogene Minderheit, wurden als Ganzes für verantwortlich und mitschuldig erklärt, rechtsextreme Gruppierungen erlebten einen rapiden Zulauf, darunter vor allem die Jobbik-Partei. (…) Amnesty Journal Februar 2012

6 Kommentare leave one →
  1. Karl Pfeifer permalink
    10. April 2012 15:54

    Danke für diesen ausgezeichneten Kommentar.
    Heute hielt das ungarische Parlament eine Sitzung ab und auf eine letzte Woche getätigte Interpellation zum Thema dieser Rede von Baráth wurde keine Antwort erteilt.
    http://atv.hu/cikk/20120410_parlament_percrol_percre_2012_aprilis_10

  2. Judith B. permalink
    10. April 2012 16:58

    Beschämend, daß die Abgeordneten nicht geschlossen aufstanden und herausgingen. Und ein Kommentar von V.Orban hätte auch nicht geschadet. Wo er doch über Gottlosigkeit klagt…

    • pusztaranger permalink
      10. April 2012 19:50

      Es waren so gut wie keine Abgeordneten mehr da, nur noch ein paar Jobbik-Abgeordnete und Staatssekretär Fónagy. Mehr dazu in Kürze, ist interessant.

  3. Kugelfuhr permalink
    11. April 2012 06:54

    Dieser Zsolt, der auch noch Grundschullehrer und Sozialpädagoge ist, ist ein Brandstifter wie seine Parteifreunde Fidesz/Jobbik. Ich habe bisher noch nicht ein vernünftigen Satz von Jobbik und nur wenig von Fidesz hören oder lesen können. Die alltägliche Kommunikation befindet sich auf einem Stand der die Bevölkerung Ungarns für geistig minderbemittelt hält und findet dabei sogar nicht wenig Befürwortung. Und es gibt sogar noch Blogger (nicht pusztaranger) die Fidesz protegieren obwohl diese Partei sich von Zsolt´s Hasstiraden nicht distanziert. Somit wird der Eindruck erweckt als sei die Einstellung der Jobbiks auch die Einstellung der Fidesz und größere Teile der ungarischen Bevölkerung unter denen auch anscheinend intellektuelle sind. Was kann ein Ausländer zu so viel Armseligkeit noch schreiben?

  4. Karl Pfeifer permalink
    12. April 2012 06:47

    Die neuesten Nachrichten hat Eva Balogh ausgezeichnet resümiert
    http://esbalogh.typepad.com/hungarianspectrum/2012/04/viktor-orb%C3%A1n-jobbik-and-anti-semitism.html

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