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Jobbik fordert Judenliste – Parlament als Farce (Presseschau, Kommentar)

29. November 2012

Der Jobbik-Abgeordnete Márton Gyöngyösi forderte am Montag im ungarischen Parlament die Offenlegung der Parlamentsabgeordneten und Regierungsmitglieder jüdischer Abstammung und  mit israelischer Staatsbürgerschaft („nationales Sicherheitsrisiko“); ein Eklat im Parlament blieb aus. Am Dienstag demonstrierten mehrere hundert Bürger mit gelben Sternen vor dem Parlament, die jüdischen Verbände protestierten; erst auf die Proteste gab die ungarische Regierung eine verurteilende Stellungnahme heraus – offenbar wird bei allen vergleichbaren antisemitischen Vorfällen per Cut-Paste auf dieselbe Textvorlage zurückgegriffen, so

  • nach den antisemitischen Angriffen auf den früheren Budapester Oberrabiner József Schweitzer am 6.6.2012;
  • nach der Schändung des jüdischen Friedhofs von Kaposvár, 23.7.2012
  • anlässlich des Roma-Holocaust-Gedenktages am 2.8.2012;
  • aktuell gegen Márton Gyöngyösis Äußerung.

(Details bei Blog Képviselo Funky)

Gyöngyösis Äußerung erregte große internationale Medienresonanz (s.u.); Jobbik-Chef Gábor Vona reagierte seinerseits mit einer Stellungnahme:

„(…) Die ganze Welt mag hier auf Nazis schimpfen, im Chor Israels Lektion aufsagen, es gibt nichts, wofür wir uns schämen müssten. Nicht wir kaufen andere Länder auf, nicht wir haben Ungarn kaputt gemacht, nicht wir haben die Menschen ins Elend gestürzt. Und, liebe Antifaschisten, wissen Sie was? Wir bedanken uns ganz herzlich für die Möglichkeit, die Sie uns mit dieser durchsichtigen und krankhaften Aufwiegelung der Hysterie schaffen. Denn solange Sie den Tod Ihrer eigenen Großeltern auf ekelhafte Weise benutzen, damit Ihnen der Mund ein wenig schäumt, nutzen wir die durch Ihre Dummheit generierte Aufmerksamkeit und werden die Zukunft unserer zukünftigen Enkel schützen. Vielen herzlichen Dank. Und jawohl: Wir fordern auch weiterhin, dass öffentlich gemacht wird, wer von den Regierungsmitgliedern und Parlamentsabgeordneten heute und in den vergangenen zwanzig Jahren israelischer Staatsbürger war.“ (Volltext s.u.)

Kommentar PR:

Parlament als Farce

Große internationale Empörung, aber absolut nichts Neues. Die Rechtsextremen genießen im ungarischen Parlament kalkulierte Narrenfreiheit, vgl. Pester Lloyd und Spiegel Online (s.u.). Der Aufschrei im Parlament blieb aus, weil solche Äußerungen dort mittlerweile ständig fallen, als „legitime“ Position der rechtsextremen Opposition „demokratische“ Normalität sind. Dies wurde überdeutlich bei der von den Medien relativ unbeachteten Parlamentsdebatte zur Situation der Roma am 20.11.2012. Jobbik und Fidesz waren sich einig in der Verdammung einer „liberalen“ Romapolitik; Fidesz ließ Jobbiks rassistische Hetze („Diese Leute verstehen nur Gewalt, die muss man segregieren, damit sie das Leben der Mehrheit nicht infizieren. Die Geduld der Mehrheit ist erschöpft. Wir wollen Ordnung, keinen Bürgerkrieg.“ etc.) kommentarlos durchgehen. Der Vorsitzende der Roma-Landesselbstverwaltung Florián Farkas (Fidesz) schloss die Debatte mit den Worten ab, sie sei „weise und von guten Absichten geleitet gewesen“; die Roma-Politik der Regierung sei einzigartig und die Zeiten der „überliberalisierten Skandalpolitik“ nun endlich vorbei. (Mehr dazu im Dezember auf diesem Blog.)

Jobbiks von Fidesz geduldete antisemitische und antiziganistische Hetze im Parlament illustriert zudem: Was auf dieser politischen Bühne von wem debattiert wird, ist für die ungarische Regierung völlig bedeutungslos. Parlamentsdebatten sollen parlamentarische Aktivität vorgaukeln, während die Gesetze autokratisch, von der 2/3-Mehrheit auf Befehl von Oben verabschiedet werden. Nach populistischer Manier sind Reaktionen der Regierung nur im Fall von nicht ignorierbaren außerparlamentarischen Protesten erforderlich (und das per Cut-Paste); die demokratische Kultur wird aus dem Parlament an die außerparlamentarische Opposition auf Facebook und die oppositionellen Medien outgesourct, die durch den Entzug staatlicher Fördermittel ausgehungert werden.

Jobbik wiederum versuchen als Opposition im Parlament, diese politische Scheinebene mit „wirklichen, realen“ Themen zu durchbrechen, die außer ihnen  „niemand auszusprechen wagt“. Während die Regierungsparteien Fidesz/KDNP für „Lüge“ stehen, können Jobbik sich als Vertreter der „Wahrheit“ profilieren. Fatal angesichts der allgemeinen Politikverdrossenheit im Land.

PRESSE:

AFP:  Zentralrat fordert EU-Vorgehen gegen Jobbik-Partei

Der Zentralrat der Juden in Deutschland hat die EU zu Maßnahmen gegen die rechtsextreme ungarische Jobbik-Partei aufgefordert. Der ungarischen Regierung warf er vor, „diesen offenen Rassismus“ bereits viel zu lange zugelassen zu haben.

Der Zentralrat der Juden in Deutschland hat die EU zu Maßnahmen gegen die rechtsextreme ungarische Jobbik-Partei aufgefordert. Die Mitgliedsstaaten, das EU-Parlament und die Kommission sollten Budapest „sehr deutlich machen: wer diesen widerlichen Rassismus toleriert, verstößt gegen die elementaren Werte der EU“, sagte Zentralratspräsident Dieter Graumann. Er bezog sich damit auf antisemitische Äußerungen des Jobbik-Abgeordneten Marton Gyöngyösi, der die Erfassung jüdischer Mitglieder von Ungarns Regierung und Parlament auf einer Liste gefordert hatte.

Graumann nannte die Forderung einen „ungeheuerlichen Akt von rasendem Antisemitismus, wie man ihn bisher nur aus dunklen Geschichtsbüchern kannte und so in einem Parlament der EU noch nicht erlebt hat“. Die Jobbik warte seit dem Betreten der öffentlichen politischen Bühne „mit einem ganzen Ensemble von Antisemiten und Rassisten auf und verbreitet ihr menschenverachtendes Programm ungehindert auch im Europäischen Parlament“. Die „gemeinsamen europäischen Grundprinzipien“ trete sie „mit Füßen“. Der ungarischen Regierung warf er vor, „diesen offenen Rassismus“ bereits viel zu lange zugelassen zu haben. (…)

Spiegel: Antisemitismus im Parlament Rassenwahn bei Ungarns Ultrarechten

Menschen jüdischer Abstammung seien ein „Sicherheitsrisiko“ und sollten in Ungarn landesweit registriert werden: Mit diesem Vorstoß vor dem Parlament löste der rechtsextreme Jobbik-Politiker Márton Gyöngyösi einen Sturm der Entrüstung aus – die Regierung distanziert sich nur zögerlich. (…)

Regierung reagiert mit Copy-Paste-Erklärung

Krisztián Ungváry, der seit langem darauf aufmerksam macht, dass Jobbik eine nationalsozialistische Partei in der Tradition der Pfeilkreuzler sei, verwundern die Äußerungen von Gyöngyösi nicht. Als eigentliches Problem sieht er das Schweigen der Regierungsmehrheit an. „Der haarsträubende Skandal besteht in der grenzenlosen Feigheit, nicht auf solche Äußerungen zu reagieren“, so Ungváry. „Es gibt immer und überall Nazis, vor allem in Osteuropa, damit muss man leben, aber man muss sich auch von ihnen abgrenzen und sie maßregeln, und das ist nicht geschehen.“

Erst nach Protesten jüdischer Verbände in Ungarn schob die Regierung am gestrigen Dienstag eine Erklärung nach, in der sie Gyöngyösis Äußerungen im Parlament offiziell scharf verurteilte und ein entschiedenes Auftreten gegenüber Extremismus, Rassismus und Antisemitismus versprach. Allerdings wirkt das Dokument wie eine lästige Pflichtübung nach dem skandalösen Schweigen des Staatssekretärs Németh. Blogger des meistgelesenen ungarischen Internetportals index.hu (Anm.: Es war Blog Kepviselo Funky) wiesen nach, dass der entscheidende Absatz in der Erklärung bereits mehrmals praktisch wortgleich zu ähnlichen Anlässen verwendet und im Copy-Paste-Verfahren in die Erklärung eingefügt worden war.(…)

Pester Lloyd: Narrenfreiheit für Verbrecher?

„Judenlisten“-Sager in Ungarn: Proteste, aber keine Konsequenzen

Rassistische Ausfälle wie jener von Gyöngyösi sind von seiten der Jobbik-Abgeordneten an der Tagesordnung und bleiben stets ohne wirkliche Konsequenzen. Die Allianz des Antifaschismus besteht nur als Lippenbekenntnis, denn Jobbik erfüllt eine Funktion als Ventil und hat ein interessantes Wählerpotential für die Regierenden. Die gemeinsame Aktion der Demokraten fällt deshalb aus, die Gyöngyösis dürfen sich in Ungarn zu Hause fühlen…

FR Online: Antisemitismus in der Jobbik-Partei Ungarischer Politiker will Juden registrieren

Stoppt die Rechten: Ungarn: Jobbik für Judenzählung

Es ist so in keinem anderen europäischen Land denkbar: ein Abgeordneter meldet sich zur Geschäftsordnung und fordert in einem Antrag den Parlamentspräsidenten auf, festzustellen, wie viele Juden im Parlament und in der Regierung vertreten sind, da sich wegen der Gaza-Krise daraus ein nationales Sicherheitsrisiko ergebe. So geschehen am Montag im ungarischen Parlament.

Nachdem der Jobbik- Abgeordnete Marton Gyöngyösi seine skandalöse Wortmeldung beendet hatte, passierte zunächst einmal – nichts! (…) Die staatlichen Medien (…) ließen den Skandal zunächst ebenfalls „unter den Tisch fallen“.

Erst am Dienstag, einen Tag später, bequemte sich die ungarische Regierung zu einer Verurteilung „in höchstem Maße“ – vom Parlamentspräsidenten Köver, den die Regierungspartei Fidesz stellt, ist noch immer nichts zu hören. (…)

Hagalil: Wieder einmal Antisemitismus im ungarischen Parlament

SZ: Rechtsradikale Jobbik-Partei – Ungarn protestieren gegen Judenhass

Wütende Proteste, Solidaritätsbekundungen mit Judenstern: Mit seiner Hetze gegen Israel hat ein Abgeordneter der rechtsradikalen Jobbik-Partei in Ungarn einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Anlässe für ein Verbot der Antisemiten gäbe es genug.

bazonline.ch: Ungarischer Politiker schockiert mit Judenregister-Vorschlag

«Ein Risiko für die nationale Sicherheit»: Der ungarische Rechtspopulist Márton Gyöngyösi sieht seine Regierung durch Juden infiltriert. Er verlangt deshalb eine Registrierung der Juden.

*

Dokumentation: Jobbik-Chef Gábor Vona: Einige Gedanken an diejenigen, die den Gelben Stern tragen

(nach mandiner.hu; Übersetzung N.N., PR dankt.)

Wir fordern weiterhin, dass öffentlich gemacht wird, wer von den Regierungsmitgliedern und Parlamentsabgeordneten heute und in den letzten zwanzig Jahren israelischer Staatsbürger war.

„Letzte Woche habe ich bei der Jobbik-Demonstration – die wir aufgrund des Blutvergießens in Gaza vor der israelischen Botschaft organisiert haben und bei der uns keine einzige Partei unterstützt hat – erklärt, dass die israelischen Staatsbürger im Parlament und der Regierung ein Risiko für die nationale Sicherheit darstellen, und da dies eine Information von öffentlichem Interesse ist, sollten wir öffentlich machen, wer davon betroffen ist. Jawohl. Ein Risiko für die nationale Sicherheit. Warum? Zum Einen, weil das Staatsoberhaupt dieses Landes [Israel] vor fünf Jahren von der Besetzung Ungarns gesprochen hat [Anm.: Gemeint ist eine scherzhaft gemeinte Äußerung von Schimon Perez 2007], zum Anderen, weil Israel die internationalen Normen missachtet. Das hat seitdem niemand zu bestreiten gewagt, lieber kuschen sie.

Gestern hat mein Parteifreund Márton Gyöngyösi eine Anfrage zu diesem Thema an das Außenministerium gerichtet. Die gesamte Wortmeldung handelte von der israelischen Außenpolitik, von deren Verurteilung. In einem seiner Sätze drückte er sich allerdings missverständlich aus, denn er sprach von Politikern „jüdischer Abstammung“. Seither ist der Skandal losgebrochen. Umsonst hat Marci sich für seinen Irrtum entschuldigt, umsonst war in dem Kontext vollkommen eindeutig, dass er an israelische Staatsbürger denkt und nicht an ungarische Staatsbürger jüdischer Abstammung – das zählte nicht. Die bis jetzt gekuscht haben, sind jetzt hervorgekrochen, und seither reden und reden und reden sie.

Gordon Bajnai erwartet eine gemeinsame Distanzierung, Ferenc Gyurcsány und die DK wollen Jobbik verbieten, die jüdischen Organisationen schreien nach dem Gericht, László Kövér beabsichtigt, die Hausordnung zu verschärfen, der Fidesz droht mit einer Geldbuße, die Abgeordneten der MSZP haben sich den Gelben Stern angesteckt, dem haben sich auch einige aus dem Fidesz angeschlossen, der Generalsekretär des Europarates hat nach seinen eigenen Worten einen „Schock“ bekommen, Péter Dániel und seine Kameraden haben eine Demonstration am Eingang zum Parlament organisiert, Ilan Mor, der Botschafter des jüdischen Staates, ist der Ansicht, das Bündnis zwischen den beiden Völkern sei unzerreißbar, die BBC lügt schon geradeheraus, dass Jobbik jeden Juden auf eine Liste setzen will;  verschiedenen Nachrichten zufolge haben sich die Führungspersönlichkeiten der christlichen Kirchen zusammengesetzt, um mit einer gemeinsamen Erklärung zu protestieren. Soll ich fortfahren?

Sie verstehen mich doch, oder nicht? All das wegen eines missverständlichen Satzes, den der Abgeordnete präzisiert und für den er sich später entschuldigt hat. Anstatt dass sie sich freuen, dass er um Verzeihung gebeten hat und es um keinerlei rassische Verfolgung geht, heizen sie die Hysterie an. Jetzt rechnen natürlich viele damit, dass wir den Schwanz einziehen, kuschen und darauf warten, dass das Gewitter sich legt. Dass man Jobbik jetzt heruntermachen kann. Dass wieder dieser bezahlte / für materielle Interessen betriebene (megélhetési) Antisemitismus losgehen kann. Und Jobbik sich vor Scham verkriecht…

Aber nein. Wer darauf zählt, der hat sich sehr in der Situation getäuscht und uns überaus verkannt. Die ganze Welt mag hier auf Nazis schimpfen, im Chor Israels Lektion aufsagen, es gibt nichts, wofür wir uns schämen müssten. Nicht wir kaufen andere Länder auf, nicht wir haben Ungarn kaputt gemacht, nicht wir haben die Menschen ins Elend gestürzt. Und, liebe Antifaschisten, wissen Sie was? Wir bedanken uns ganz herzlich für die Möglichkeit, die Sie uns mit dieser durchsichtigen und krankhaften Aufwiegelung der Hysterie schaffen. Denn solange Sie den Tod Ihrer eigenen Großeltern auf ekelhafte Weise benutzen, damit Ihnen der Mund ein wenig schäumt, nutzen wir die durch Ihre Dummheit generierte Aufmerksamkeit und werden die Zukunft unserer zukünftigen Enkel schützen. Vielen herzlichen Dank. Und jawohl: Wir fordern auch weiterhin, dass öffentlich gemacht wird, wer von den Regierungsmitgliedern und Parlamentsabgeordneten heute und in den vergangenen zwanzig Jahren israelischer Staatsbürger war. Tut vielleicht das so sehr weh? Deswegen dieser nach Schweiß riechende Eifer? Wollen Sie vor der wesentlichen Frage davonlaufen? Das werden wir nicht zulassen.“

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