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Ein Leben ohne Bargeld: Sozialhilfe in Monok

24. September 2009

Wenn ich in Nordostungarn auf dem Land wohnen und Sozialhilfe beziehen müsste, würde ich die ab 1. Oktober nur noch bargeldlos bekommen. Mit meiner „Sozialkarte“ könnte ich im kleinen Dorfladen bargeldlos alles kaufen außer Zigaretten und Alkohol, und auch das nur, wenn ich meinen Hof in Ordnung halte und im Garten mein eigenes Gemüse ziehe. Denn an diese Auflagen ist mein Lebensunterhalt von nun an gebunden. Und ich weiß, dass im Gemeindehaus jemand sitzt und die Abrechnung kontrolliert, und genau weiß, was ich gekauft habe. Nur für den Fall, dass ich doch irgendwie an Kippen gekommen bin.

Aber was, wenn ich mal dringend Bargeld brauche, um beispielsweise mit dem Bus ins Nachbardorf zu fahren? Wenn ich ins Krankenhaus muss, und der Doc dort für die Behandlung seinen kleinen Umschlag haben will, wie das in Ungarn immer noch weit verbreitet ist? Oder wenn ich etwas brauche, was der kleine Dorfladen nicht führt? Wie bringe ich meinen Kindern bei, was Geld ist, wie es funktioniert, wie man es zählt und rechnet?

Egal.

Ich brauche kein Bargeld mehr. Ich und all die anderen SozialhilfeempfängerInnen von Monok und fünf weiteren Gemeinden werden ab ersten Oktober komplett vom Bargeldverkehr abgekoppelt. Soviel ich weiß, macht man das in Deutschland mit den Asylbewerbern so, damit sie sich bei uns ja nicht zu wohlfühlen. In Ungarn auf dem Land sind es vor allem  Roma, die Sozialhilfe beziehen. Und diese Praxis soll landesweit Schule machen, die Betreiberfirma verhandelt derzeit angeblich schon mit über fünfhundert Gemeindeverwaltungen.

Auch wenn das Ganze eigentlich verfassungswidrig ist, wie einige Verfassungsrechtler sagen.

Ich habe von ähnlichen Projekten in der dritten Welt gehört, in Indien und Südamerika, wo etwas Ähnliches gemacht wird, aber dort sind die Einschränkungen, mit denen die Männer aus der Kneipe rausgehalten werden sollen, meist mit Kleinkrediten, Bildungsmaßnahmen und gezielter Förderung für die Frauen gekoppelt, die dann ein eigenes Business aufziehen können. Einschränkung hier, Förderung da.  Aber in Monok war von irgendwelchen Förderungsmaßnahmen nicht die Rede.

Das Ganze hat sich der Bürgermeister von Monok, Zsolt Szepessy ausgedacht, von dem gestern in meinem Post über Onkel Barnas Killergurken schon die Rede war.

Laut Szepessy sind die Meinungen der Betroffenen zur „Sozialkarte“ in seinem Ort geteilt. Die Frauen seien dafür, denn so kommt das Geld auch wirklich bei der Familie an, die Familienväter können es so nicht mehr in die Kneipe tragen, versaufen, verrauchen und am Spielautomaten verspielen. Die Männer finden die Sache weniger gut, sagt Szepessy in einem Interview, aber wer gibt schon zu, dass er lieber in der Kneipe sitzt, als seine Kinder ordentlich zu ernähren. Proteste der Betroffenen sind also keine zu erwarten.

Ein wesentlicher Gedanke dabei war auch, etwas gegen die Kreditwucherer zu tun. Viele Romafamilien nehmen üble Wucherkredite auf, da die Wucherer die einzigen sind, die ihnen überhaupt Geld leihen. So geht die Sozialhilfe oft für Ratenzahlungen drauf, das Geld vom Staat landet direkt beim Wucherer. Der Wucherkriminalität soll mit der „Sozialkarte“ nun ein Riegel vorgeschoben werden.

Quellen: NépszavaMagyar HirlapFigyelônetInterview mit Szepessy.

Kritik

Die Soziologin und Armutsforscherin Zsuzsa Ferge, Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, äußerte sich entsetzt. Probleme der Ungleichheit und Arbeitslosigkeit können nicht gelöst werden, indem man die Armen zum Sündenbock macht. Forschungen zeigen, dass auch bei den Armen, die von Sozialhilfe leben, das Kind an erster Stelle steht.  Die Argumentation, dass die Sozialkarte nötig ist, weil die Eltern das Geld sonst nicht für das Kind verwenden, hält sie für schlichtweg falsch.

Zsuzsa Ferge weist auch darauf hin, dass laut der Pläne des Bürgermeisters von Monok nur in bestimmten Geschäften – ungarischen Mittel- und Kleinunternehmen mit der Sozialkarte eingekauft werden kann. Diese können sich dann erlauben, die Produkte teurer als die Konkurrenz anzubieten. Die Soziologin hält es für unakzeptabel, die Freiheitsrechte der Sozialhilfeempfänger so einzuschränken, und es macht auch gar keinen Sinn. Die Probleme der 800.000 ungarischen Alkoholiker wird nicht die Sozialkarte lösen, und auch gegen den Kreditwucher sollte man nicht mit einer Karte, sondern eher mit der Linderung der schrecklichen Not ankämpfen – der Kreditwucherer kann dem Sozialhilfeempfänger schließlich auch die Karte abnehmen.

Die großen sozialen Probleme der steigenden Armut, Arbeitslosigkeit und gesellschaftlicher Ungleichheit können und dürfen nicht damit verdeckt werden, dass man die Armen zum Sündenbock macht.

Mal abwarten, wie es so läuft in Monok. Und was die Leute sich dort in Zukunft einfallen lassen, um an Bargeld ranzukommen.

*

Edit 4.10.: Jobbik begrüßt die Einführung der „Sozialkarte“, Jobbik EU-Abgeordnete Krisztina Morvai hat sich in einem offenen Brief als Juristin dazu geäußert. Sie sieht keinerlei verfassungs- oder menschenrechtliche Probleme. Das „Kindeswohl“ hat für sie Vorrang vor den „Freiheitsrechten der Eltern.“ Es liest sich wie ein juristischer Feldzug, die Kinder von Sozialhilfeempfängern vor ihren eigenen Eltern zu schützen, die grundsätzlich nichts Besseres zu tun haben, als das Geld für die Ernährung ihrer Kinder für „Luxusgüter“ zu verschwenden.

Edit 23.10.: Die „Sozialkarte“ ist, wie die Népszabadság am 20. 10. berichtet, ab sofort eingeführt. Demnach werden 60% der Sozialhilfe auf die Karte und 40% in bar ausbezahlt. Konkretere Angaben über die Höhe der Beträge habe ich bisher nicht gefunden.

Der Staatssekretär für Soziales (a szociális tárca államtitkára) hat vor, sich deswegen ans Verfassungsgericht zu wenden.

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