Viktor Orbán mobilisiert verstorbene Wähler?
Fidesz erfasst seit Jahren systematisch die Daten der eigenen Unterstützer, um sie im Wahlkampf gezielt mobilisieren zu können. So diente offenbar auch die Fidesz-Unterschriftenaktion zur Senkung der Energiepreise mit über zwei Millionen Unterschriften diesem Zweck. Und bei der Abgleichung solcher Datenmengen treten schon mal Fehler auf: Bei den zwei Millionen Unterschriften werden offenbar auch lange verstorbene Unterstützer mitgerechnet und erhalten persönliche Dankesbriefe von Viktor Orbán. Ein aktuelles Beispiel.
Ein Hauptargument der ungarischen Regierung für ihre Wiederwahl 2014 ist ihre Senkung der Energiepreise, die als Maßnahme zum „Schutz der ungarischen Familien“ gegen die „bösen Multis“ mit einer landesweiten Unterschriftensammlung quasi „per Volksentscheid“ legitimiert werden soll (vgl. Pester Lloyd hier und hier).
Diese Unterschriftensammlung wurde in den letzten Monaten von Fidesz-Politikern und Aktivisten mit großem Einsatz betrieben und war Dauerthema in den Nachrichtensendungen der regierungsnahen Medien.
Für ihre Durchführung wurde eigens ein Gesetz geändert, denn zuvor waren Unterschriftenaktionen direkt an der Wohnungstür verboten. (Pester Lloyd)
Der Enthusiasmus ging so weit, dass Fidesz-Aktivisten ihre Stände während des Gottesdienstes vor Kirchentüren aufbauten, um die Gemeindemitglieder nach der Messe abzufangen, oder sich bei öffentlichen Sportevents so präsentierten, als wäre die Unterschriftenliste Teil der Anmeldung (Beispiele hier).
Mittlerweile haben über zwei Millionen ungarische Bürger unterschrieben (s.u.), die in Zukunft 10% weniger für Gas, Strom, Wasser, Müllabfuhr etc. bezahlen wollen. Aber es handelt sich um ein populistisches Manöver, das eingesparte Geld holt sich der Staat über Steuererhöhungen (Transaktionssteuer, Telekommunikationssteuer, Versicherungssteuer) zurück.
(Fidesz-Sprecher Máté Kocsis und Fidesz-Fraktionsvorsitzender Antal Rogán verkünden auf einer Pressekonferenz den Beginn der Unterschriftensammlung, fidesz.hu)
Die ungarische Regierung informiert: „Senkung der Energiepreise – Ungarn macht’s besser!“ (nepszava.hu)
Unterschriftenaktion mit eigenem Fuhrpark.
„Die Senkung der Energiekosten geht weiter: Ab 1. Juli werden die Preise von Wasser und Gasflaschen um 10%, die Gebühren für die Müllabfuhr um mindestens 10% und die Kaminfegergebühren um 20% gesenkt. Ungarn lässt sich nichts bieten.“ (Fidesz, Facebook)
Datenkrake
Es ist davon auszugehen, dass die Petition auch der Sammlung von Bürgerdaten dient, um diese im Wahlkampf gezielt ansprechen zu können. Die Unterschriftenbögen sind sichtlich zur Datenerfassung angelegt:
(hacsaknem.blog.hu)
Dass Fidesz seit Jahren Wählerlisten anlegt und pflegt („Kubatov-Liste“), aufgrund derer die Wahlbezirke neu zugeschnitten wurden (Gerrymandering), ist bekannt, und auch, dass auch Wähler des „feindlichen“ politischen Lagers erfasst werden, vgl.
- “Die Strategie des Sieges”: Fidesz-Wahlsieg dank illegaler Wählerlisten, 16. Dezember 2012
- Pester Lloyd: Last-Minute-Skandal: Hat Fidesz illegal Daten über die Gesinnung von Wählern in Ungarn gesammelt? 09.04.2010
- Standard: „Ich kann genau sagen, wer die ‚Kummerln‘ sind“. Datenskandal bringt Fidesz vor Parlamentswahl in Bedrängnis. 8. April 2010
Und bei der Abgleichung solch immenser Datenmengen aus unterschiedlichen Quellen kann es schon mal zu Fehlern kommen. Ein Budapester Leser dieses Blogs schreibt:
„Ich habe meine Wohnung in Budapest 2009 gekauft. Der Vorbesitzer war Mitte 80, er zog damals zu seiner Familie und verstarb kurz darauf. Seither wohnten auch keine Angehörigen von ihm mehr hier im Haus. Jetzt fand ich im Briefkasten Post für den alten Herrn: Ein Dankschreiben von Viktor Orbán, wie es offenbar all diejenigen bekommen, die die Petition für die Energiepreissenkungen unterschrieben haben (s.u.).
Ich bin gespannt, was für Post der Verstorbene im Wahlkampf bekommen wird, und ob Viktor Orbán sich nach der Wahl mit einem ähnlichen Schreiben für seine Stimme bedankt.“ (Name und Adressat bekannt.)
[Update 27.6.2013: Mittlerweile werden andere Beispiele von den oppositionellen Medien aufgegriffen, so der Fall eines seit neun Jahren verstorbenen Mannes, der für seine Unterschrift den folgenden Dankesbrief von Viktor Orbán bekam, bei atv, Video ab 4:40.
Update 1.7.2013: vgl. Hungarian Spectrum: Viktor Orbán’s letters to the Hungarian people: An expensive habit, June 30, 2013.]
Dankesbrief von Viktor Orbán:
Ungarn lässt sich nichts bieten! Unterschriftensammlung für die Senkung der Energiekosten
Geehrter Landsmann! [honfitárs, patriotischer konnotiert als der neutral-demokratische „Mitbürger“]
Ich danke Ihnen, dass Sie die Petition zur Senkung der Energiekosten unterschrieben haben. Wir alle wissen, dass die sozialistischen Regierungen seinerzeit die lebenswichtigen Geschäfts/Industriezweige des Landes verkauften, und den neuen Besitzern, multinationalen Konzernen, sogar unredliche Vorteile – zum Beispiel garantierten hohen Profit – verschafften.
Es hat viele von uns empört, dass die frühere Führung des Landes statt der ungarischen Familien ausländische Milliardäre bevorteilte.
So konnten die Preise für Strom und Gas die im Verhältnis zu den Einkommen höchsten Europas werden, was den ungarischen Familien schwere Verluste verursacht hat.
Wir haben uns 2010 der Aufgabe gestellt, das zu beenden.
Mit Ihrer Unterschrift haben Sie sich den über zwei Millionen Menschen angeschlossen, die für Ungarn Stellung beziehen. Mit dieser Petition sagen wir diesen Unternehmen und den internationalen Organisationen, die sie aus dem Hintergrund unterstützen, dass es keine gute Idee ist, sich mit den Ungarn anzulegen. Sie können die Entscheidung der Ungarn nicht verändern, unseren Zusammenhalt nicht schwächen.
Wir möchte jedem zu verstehen geben, dass Ungarn ein starkes, freies, unabhängiges Land ist, in dem wir unsere Rechte, Interessen, unsere wertvollen Ressourcen nicht aufgeben. Wir werden nicht dulden, dass Andere uns unrechtmäßig und unmoralisch wegnehmen, wofür wir gearbeitet haben.
Ich danke für Ihre Unterstützung. Ich zähle auf Sie, wenn es darum geht, sich für Ungarn und die Interessen der Ungarn einzusetzen [lies: auch für die Interessen der Ungarn außerhalb der Landesgrenzen – wohlgemerkt ist ein EU-Bürgerbegehren für die Autonomie des Széklerlandes in Arbeit], und auch Sie können auf mich zählen.
Mit freundlichen Grüßen,
Viktor Orbán
*
Absender: Viktor Orbán, Vorsitzender, Fidesz-Ungarischer Bürgerbund; Adresse der Fidesz-Parteizentrale.
Das Ganze ist noch ein bisschen zynischer. Ein Kommentator („tappanch“) des Blogs Hungarian Spectrum hat kürzlich Rechnungen für all diese „utilities“ (Wasser, Gas, Strom, Abwasser, Müllabfuhr) von vor einem Jahr mit jenen dieses Jahres verglichen und festgestellt, dass sich im Durchschnitt all diese Gebühren um ca. 8% erhöht haben, obwohl der tatsächliche Verbrauch sich nicht verändert hatte.
Siehe auch die Rechnung der Boulevardseite Bors Online, dass die Bürger netto draufzahlen (wurde auch von Népszabadság etc. übernommen):
Geschätzte Angaben für eine durchschnittliche vierköpfige Familie:
Erhöhung des Mehrwertsteuersatzes auf 27% (2012): –1600 Ft
Transaktionssteuer: –1337 Ft
Versicherungssteuer: –1500 Ft
Telefonsteuer: –1800 Ft
Senkung der Energiekosten: +5500 Ft
Gesamt: –737 Ft
Hier habe ich endlich den Kommentar, den „Tappanch“ in Hungarian Spectrum gepostet hat (sein Yahoo Account wurde gehackt):
May 11, 2013 at 6:16 am | #11
„The result of the government mandated 10% utility price CUTS in my own bills.
The average of the same last months, 2013 vs 2012.
There was no change in usage patterns, the same # of people live here.
Electricity= 4.33% INCREASE.
District heating+hot water= 9.52% increase
Cold water+sewage+garbage+cooking gas= 17.83% increase
So much for the 10% propaganda.“
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The electric company is foreign-owned. The Orban gov’t mandated a 10% cut, but the company measured that I used more electricity in 2012 than in 2011, so they raised the monthly flat rate I have to pay in 2013. So in June 2012 I had to pay 9,400 forints while in June 2013 9,800 forints.
The heating company is owned by the Budapest municipality.
The bill was 26,500 forints in May 2012, and 31,100 a year later.
Cold water+sewage+garbage+cooking gas
May 2012: 17,300 for 2 months
May 2013: 21,400 for 2 months
As you can see, the electric bill is actually the smallest of the three.
Das nur als Nachtrag und Beleg, dass das Orbán-Regime lügt.
Und weiter geht’s mit Lüge, will sagen froher Botschaft auf der Regierungsseite (beide von heute):
Further reduction in household gas and electricity prices in October
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