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Haltet den Dieb: Antiliberaler Antisemitismus in Aktion

10. Januar 2011

Nach massivem Protest gegen das ungarische Mediengesetz hat nach Ministerpräsident Viktor Orbán nun auch Außenminister János Martonyi eingelenkt. Falls die EU-Kommission konkrete Einwände gegen das Gesetz habe, „sind wir selbstverständlich in der Lage, entsprechende Ergänzungen oder Änderungen vorzunehmen“, sagte Martonyi am Sonntag. Er räumte ein, einige Bestimmungen seien zu breit ausgelegt, verteidigte das Gesetz aber zugleich. Es diene dazu, Hassreden und antisemitische Rhetorik zu unterbinden, erklärte der Außenminister im österreichischen Fernsehsender ORF.

So das Handelsblatt.

Na da bin ich mal sehr gespannt, wie genau das aussehen soll, besonders in diesem Fall:
Die Welt: Opposition nutzt Mediengesetz gegen Orbán-Freund.

Edit 12.1.: Siehe auch: Antisemitische Schmähungen in Ungarn. Karl Pfeifer auf Hagalil.

Update 15.1.: Tagesanzeiger: Viktor Orbans Freund diffamiert die Juden

Der Publizist Zsolt Bayer, um den es dort geht,  ist ein alter Bekannter, siehe meine Posts „Ein Ausbund an menschlicher Verruchtheit“ und Ungarn kontra IWF: „Freiheitskampf“ gegen das „jüdische Finanzkapital“.

Aber zu dem ist genug gesagt, mir geht es heute um dieses hier:

ORF: Kampagne gegen Ex-Dissidenten in Ungarn

Regierungsnahe Medien haben in Ungarn eine Kampagne gegen Wissenschaftler gestartet, die als liberal gelten. Etliche von ihnen hatten sich als Dissidenten unter dem Kommunismus auch im Ausland einen Ruf erworben. Die Tageszeitung „Magyar Nemzet“, deren Besitzer Gefolgsleute des rechtskonservativen Ministerpräsidenten Viktor Orban sind, behauptete in ihrer Samstag-Ausgabe, die betroffenen Intellektuellen hätten staatliche Fördergelder zweckentfremdet ausgegeben.

Unter den Angegriffenen sind die Philosophin Agnes Heller, der Philosoph Mihaly Vajda und der Literaturwissenschaftler Sandor Radnoti. Als kritische Wissenschaftler waren sie im Kommunismus Repressalien ausgesetzt gewesen. Einige von ihnen sind heute scharfe Kritiker Orbans und der populistischen Rechten in Ungarn.

Am Tag zuvor hatten 70 Bürgerrechtler aus ganz Europa in einem offenen Brief gegen den Demokratieabbau in Ungarn protestiert. Unter den Unterzeichnern sind der tschechische Ex-Präsident Vaclav Havel, der polnische Publizist Adam Michnik und der ehemalige DDR-Dissident Wolfgang Templin.

Was bei der Berichterstattung bisher nicht durchkommt, ist, daß die Angriffe eine klare antisemitische Stoßrichtung haben.  Hier sind PhilosophInnen betroffen, die als „verjudet“ betrachtet werden, und an ihnen wird praktiziert, was die Antisemitismusforscherin Magdalena Marsovszky „antiliberalen Antisemitismus“ nennt. Denn hier geht es nicht allein um mißliebige politische Einstellungen; im völkischen Diskurs ist „liberal“ eine Chiffre für „jüdisch“:

Es gibt in der Antisemitismusforschung den von Klaus Holz geprägten Begriff des„antikommunistischen Antisemitismus“, der aufgrund des „Mythos vom jüdischen Kommunismus“ alles Kommunistische und Bolschewistische als „verjudet“ ansieht. Es gibt aber auch eine weitere Form des Antisemitismus, den man „antiliberalen Antisemitismus“ nennen könnte. Nach dieser Ansicht wird alles, was mit der liberalen Demokratie zu tun hat, z.B. das Denken in der liberalen Demokratie, auch als „verjudet“ angesehen. Die Begriffe „Kommunist“, „Bolschewik“ oder „Liberal“ stehen im gegenwärtigen völkischen gesellschaftlichen Diskurs als Codes für „verjudet“ oder „Jude“.Dementsprechend
werden vor allem linke und linksliberale Politiker und Intellektuelle angegriffen, unabhängig davon, ob sie eine jüdische Identität haben oder nicht. Das bekannte Lexikon der Rechtsextremen, das Metapedia, führt eine eigene ungarische Seite mit den Namen und Angaben von linksliberalen Menschen des öffentlichen Lebens, die als (im Grunde zu liquidierende) Juden dargestellt werden. Wer hier Jude ist, wird von den Betreibern der Internetseite bestimmt und nicht von den Betroffenen selbst.
(Anmerkung: Auf dieser Liste steht die Forscherin inzwischen auch:
http://hu.metapedia – punkt – org/wiki/Zsid%C3%B3k_a_magyar_k%C3%B6z%C3%A9letben

(Zitiert von hier: Kippt Europa nach rechts? Antisemitismus und ethnisch-völkisches Denken In Ungarn und die Probleme des Widerstands dagegen. Ein Interview mit Magdalena Marsovszky (Nov 2010)

Kostprobe aus dem Leitartikel der Magyar Nemzet von Szabolcs Szerető, 8.1., Überschrift „Philosophen“:

(…) Wenn wir das Betätigungsfeld der Betroffenen auch nur ein wenig kennen, wissen wir: Wir haben es hier mit einer Profibrigade von Kulturkämpfern zu tun, die (…) seit dem Beginn der Wende aus Überzeugung versucht, die demokratische Rechte mit der Keule des Antisemitismusvorwurfs zu erschlagen. Und siehe da, diese Aktivität wird von der ihnen genehmen politischen Macht (sozialistische Regierung) motiviert und honoriert. All das ist natürlich keine Erklärung dafür, woher dieser archaische Haß (?törzsi gyűlölet – gegen die Orbán-Regierung) kommt, der (…) in diesen Menschen tobt. (…)
Oder der Religionsphilosoph György Gábor, der in Verbindung mit der Politik von Fidesz Fundamentalismus diagnostiziert (értekezik) und immer zur Hand ist, um die Kirchen wegen Pädophilen- oder Spitzelaffären unter Beschuß zu nehmen?  Der der Ansicht ist, daß der Holocaust im historischen Sinn 1945 nicht zu Ende war. Und natürlich erscheint auch Ágnes Heller, die große Populismusexpertin, der zufolge Orbán eine diktatorische Figur ist, und die neue Regierung seit dem letzten Frühling das Gebäude der liberalen Demokratie abgerissen hat.
(…) Woher kommt diese tiefe Verachtung, mit der diese Intellektuellen auf dieses Land herabsehen, und sich vor dem Ausland aktiv an der Anprangerung unseres Landes beteiligen?  (…) Es ist an der Zeit, neu über die Antwort auf die Frage nachzudenken, wer genau eigentlich das Land spalten will.

Magyar Hírlap findet es in diesem Zusammenhang wichtig zu erwähnen, daß György Gábor „sich auch mit Antisemitismusforschung hervorgetan hat“.

Auf rechtsextremen Seiten, u.a.  einer Jobbik-Ortsgruppe, zirkuliert eine überarbeitete Version des MNO-Artikels, in der die „integrierte Mehrheit der ungarischen Juden“ (a hazai zsidóság beilleszkedő többség) aufgefordert wird, „sich von diesen Schacherern zu distanzieren, weil sie mit dieser Aktivität zur Verstärkung des Antisemitismus in Ungarn beitragen.“
Und der Rest ist die übliche üble antisemitische Hetze, will ich hier nicht wiedergeben.

Rechte und Rechtsextreme haben hier dieselbe ideologische Grundlage, die Unterschiede liegen lediglich darin, wie explizit man sich ausdrückt. Es geht darum, den „inneren Feind“ mundtot zu machen, der seine Kontakte mit den „äußeren Feinden“ mobilisiert hat, um die ungarische Regierung zu kritisieren („die Nation zu verunglimpfen“).
Und das geht nun mal hervorragend mit dem Vorwurf, „diese Leute“ hätten öffentliche Gelder veruntreut. Das Timing ist schon sehr suspekt; die Petition ist vom 7.1., und am 8.1. morgens tönte die Magyar Nemzet, „Heller & Co“ (Hellerék) hätten eine halbe Milliarde Forint veruntreut. Später am Tag brachte es auch Magyar Hírlap, dort ist die Summe auf 70 Mio. HUF (ca. 255000 EUR) geschrumpft.

Die emeritierte Yale-Professorin und Ungarnexpertin Eva S. Balogh in einem Kommentar auf ihrem Blog Hungarian Spectrum:

The budget of the NKTH was 50 billion forints a year but for the humanities and social sciences only 1-1.5 billion forints were allocated. Out of this amount only 70 million was given to the institution, where seventeen people worked. And it was for three years. I talked to one of the people mentioned by MN and he is outraged. MN’s account sounds like some kind of conspiracy. It is normal procedure to apply for grants for different projects. One either wins and gets some support or not. This is that simple.

Egal was bei diesem Verfahren letztlich herauskommt – was durch die Berichterstattung in regierungsnahen Medien bei den Leuten jetzt schon hängen bleibt, ist:  „Die Juden“ verunglimpfen die Nation („uns“) im Ausland, dabei sind die es, die „uns“ eine halbe Milliarde gestohlen haben. „Die“ sind somit moralisch disqualifiziert und als Kritiker der Regierung unglaubwürdig.
Klare Parallele zur Spitzelkampagne gegen Paul Lendvai im November.

Wer beklaut hier wen?

Die Tage müssen sich Millionen Ungarn überlegen, ob sie sich von ihrem Staat erpressen lassen oder doch wagen sollen, in ihrer privaten Rentenversicherung zu bleiben; in diesem Fall verlieren sie ihre staatlichen Rentenansprüche (siehe Pester Lloyd: Rentner am Staatstropf – Ungarn droht seinen Bürgern mit dem Entzug des Rentenanspruchs).
Aber der Staat braucht eben dieses Geld, um das Budgetdefizit zu stopfen.
Fragt sich nur, wo er sich als nächstes bedient, wenn die Rentengelder futsch sind.
Ich habe da schon so eine Vermutung.

*

Lesenswerter Post: Hungarian Spectrum: Hungarian spring cleaning: The philosophers and all the others.

Und: Zsófia Mihancsik: What is the answer, dear Hungarians?

Nach Fertigstellung gefunden: Der Standard: „Hysterische Ausbrüche“ – Ungarns Regierung kritisiert Intellektuelle, und Regierung gibt Intellektuellen Schuld an internationaler Kritik

Update: Diskussion dazu im ungarischen Fernsehen (Ungarisch, 13.1.2011). Agnes Heller will gegen die Magyar Nemzet rechtliche Schritte wegen Verleumdung ergreifen. Recht hat sie.

5 Kommentare leave one →
  1. 11. Januar 2011 06:46

    Mir ist gerade der Witz mit dem Autofahrer durch den Kopf gegangen, der im Verkehrsfunk hört: „Vorsicht, Geisterfahrer!“ und dann vor sich hinmurmelt: „Einer? Hunderte!“

    Anstatt sich die ganze Zeit zu fragen, warum so viele böse Menschen gegen den guten Orbán sind, sollten sich ein paar Menschen vielleicht langsam mal umschauen und sehen, dass nicht die anderen die Geisterfahrer sind… Nicht die Berichterstattung im Ausland ist einseitig negativ, sondern die Regierungspolitik ist weitgehend einseitig negativ! Aber vor allem bei Magyar Nemzet habe ich da keine große Hoffnung auf Einsicht.

    Es ist nur so erschütternd ärgerlich, wenn diese Zeitung fragt, wer denn genau das Land spalten will, nach Jahren spaltungsaktiver Orbán-Opposition. Und dass viele (Fidesz-)Menschen die aktuelle Regierung immer gleich mit dem ganzen Land gleichsetzen und von Verachtung für das Land sprechen, wenn man die Regierung kritisiert, kotzt mich schlichtweg an.

  2. pusztakulancs permalink
    11. Januar 2011 09:26

    *was durch die Berichterstattung in regierungsnahen Medien bei den Leuten jetzt schon hängen bleibt, ist: „Die Juden*
    ach??
    Ich hätte beim Lesen des Artikels gedacht:
    So sind sie halt unsere Philosophen..verdienen sich gerne mal ne Mark nebenbei mit ihrer schnell gegründeten KFT….
    (wäre evtl. zwecks ausgewogener Berichterstattung ganz gut gewesen, für den des ungarischen nicht fähigen,zu erwähnen, worum es hier eigentlich geht ?)
    Jetzt weiß ich wenigstens , dank der hier herrschenden Aufklärung,dass ich auch Antisemit bin!!

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