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Chronik eines Schauprozesses – Teil 2

14. Februar 2011

(Ein Gemeinschaftsbeitrag des PusztaLeaks-Kollektivs.)

In den letzten Wochen führt die regierungsnahe Presse eine aggressive Hetzkampagne gegen die Philosophen Ágnes Heller, Mihály Vajda und Sándor Radnóti, sowie drei ihrer Kollegen. Die teils regierungskritischen, teils der Orbán-Regierung politisch nicht genehmen Wissenschaftler werden beschuldigt, eine halbe Milliarde Forint an Forschungsgeldern veruntreut zu haben.

Im Folgenden möchten wir etwas mehr Kontext und Hintergründe liefern, denn diese Geschichte ist nicht nur für Philosophen interessant. Eine wissenschaftliche Einrichtung, Medien und Politik arbeiten derzeit in konzertierter Aktion daran, prominente Kritiker und „Feinde“ der Orbán-Regierung juristisch zu belangen und mundtot zu machen. Die Frage ist nur, ob auch die Justiz das mitträgt.

Bislang konnte den Betroffenen noch nichts nachgewiesen werden.

Teil 1 vom 3.2.2011 hier.

Im Folgenden als Ergänzung weitere Belege aus der ungarischen Presse dafür, daß es die Institutsleitung des Philosophischen Forschungsinstituts der Ungarischen Akademie der Wissenschaften war, die der regierungsnahen Presse interne Institutsunterlagen zum Borbély-Projekt zugespielt hat – der ehemalige Vizedirektor Tamás Demeter mit aktiver Mithilfe von Institutsleiter János Boros; sowie dafür, daß der Abrechnungsbeauftragte der ungarischen Regierung ursprünglich geplant hatte, mit Hilfe dieser ihm schon vorher zur Kenntnis gelangten Unterlagen den Auftakt der Hetzkampagne gegen die prominenteren Philosophen in der Magyar Nemzet gezielt zu inszenieren und seine Anklagen dann als Folge dieser Presseberichte darzustellen.

Dabei beziehen wir uns in erster Linie auf die Berichterstattung in den regierungsnahen Medien Magyar Hírlap und Magyar Nemzet.

Januar 2011: Interne Institutsunterlagen an Magyar Hírlap

Am 13. und 14.Januar wurden im Magyar Hírlap Informationen über das Projekt von Borbély-Geréby-Gábor veröffentlicht, die in der Magyar Nemzet nicht zu lesen waren. So wird aus einem internen Finanzbericht des Instituts zitiert, bei dem es sich um den Bericht der von Akademiepräsident Pálinkás Mitte Juni 2010 angeordneten Untersuchung handeln muß. Auch wird dort erstmals der Name von Gerébys Firma sowie eine Projektförderung an Borbély aus dem Jahr 2007 erwähnt, von der bislang noch nirgends die Rede war. All das sind institutsinterne Informationen, die dafür sprechen, daß dem Magyar Hírlap interne Institutsunterlagen zugespielt wurden, die der Magyar Nemzet nicht zur Verfügung standen.

Daß es der ehemalige Vizedirektor des Instituts Tamás Demeter war, der im Juli 2010 bei der Staatsanwaltschaft anonym Anzeige gegen das Borbély-Projekt erstattete und der Magyar Nemzet interne Institutsunterlagen zuspielte, ist mittlerweile bekannt; und siehe da, auch im Magyar Hírlap wird am 13.1. ein „Experte“ zitiert, der „ungenannt bleiben möchte“ und sich fachlich vernichtend über das beanstandete Projekt äußert – anonym besonders schäbig.

Dadurch ist nun sicher, daß Demeter mit aktiver Mithilfe von Institutsdirektor Boros an diese Institutsunterlagen kam. Denn zu der Zeit, als der im Magyar Hírlap zitierte Untersuchungsbericht vom Juni im Institut eintraf, war Tamás Demeter nicht mehr Vizedirektor und hatte keinen privilegierten Zugang zu den Institutsunterlagen mehr. Nachdem nämlich Demeter seine Presseklage gegen die Népszava am 16. Juni 2010 in erster Instanz verloren hatte, wurde er von Boros als Vizedirektor suspendiert, bis ein rechtskräftiges Urteil gefallen wäre.

Gleichzeitig teilte Boros aber mit, daß er Demeter den Posten wiedergeben würde, wenn er den Prozeß gewinnen würde, und auf der Webseite des Instituts wurde er noch bis Mitte Januar 2011 – als er die Presseklage in zweiter Instanz ebenfalls und somit rechtskräftig verlor – als Vizedirektor geführt.

Budai wollte die Kampagne gegen die prominenten PhilosophInnen in der Magyar Nemzet aufbauen – aber jemand funkte ihm dazwischen

Am 8.1. berichtete die Magyar Nemzet über alle sechs Philosophenprojekte und wies auf angebliche Unregelmäßigkeiten bei Borbélys Projekt hin (Belege siehe Teil 1). Dieses Projekt stand dort aber weder im Vordergrund, noch wurde erwähnt, daß Budai deswegen Anzeige erstattet hatte. Dazu kam es erst am 10. Januar, als gleichzeitig Kopien von Budais Anzeige und Informationen aus den Projektakten veröffentlicht (und in den nächsten Tagen wiederholt) wurden. Im Vergleich zu den Informationen vom Sommer 2010, als ein „Unbekannter“ das Borbély-Projekt angezeigt und gleichzeitig der Magyar Nemzet die Projektakten zugespielt hat, wurde allerdings nichts wesentlich Neues mitgeteilt. Zudem wurde parallel die am 8. Januar begonnene Kampagne gegen die eigentliche Zielscheibe, die „Heller-Clique“ fortgesetzt; dabei verschwand das Element „Borbély-Projekt“ zunehmend aus dem Blick, und Einzelheiten der anderen fünf Projekte wurden in den Vordergrund gestellt – diese stammen offensichtlich aus den Akten der fördenden Institution (Nationales Amt für Forschung und Technologie NKTH, heute NIH ), die Budai sich zur Überprüfung angefordert hatte. Die Magyar Nemzet berichtete dann am 12.1., daß Budai seine Untersuchungen als Folge ihrer Recherchen auf die anderen fünf Projekte ausgedehnt hätte.

Es entsteht der Eindruck, daß man die Kampagne gegen die Philosophen in der Magyar Nemzet am 8.1. beginnen und langsamer aufbauen wollte, und daß Budais Anzeigen dann als Folge dieser Presseberichte dargestellt werden sollten. Budai sagte auch mehrfach in den Medien, daß er durch die Berichte der Magyar Nemzet auf den Fall aufmerksam geworden sei (s. auch Interview mit Akademiepräsident Pálinkás auf ATV).

Aber das Magyar Hírlap funkte ihm dazwischen – es berichtete am 8.1. über die Anzeige und zitierte daraus im Wortlaut; jemand muß frühzeitig davon erfahren und den Text gleich dem Magyar Hírlap zugespielt haben.

Somit war an dem Tag, als die Kampagne in der Magyar Nemzet begonnen werden sollte, die Katze schon aus dem Sack.

Für den selben Tag hatte Budai bereits eine Pressekonferenz angekündigt, jedoch mit anderen Inhalten, die Philosophenprozesse werden dort nicht erwähnt. Dann mußte diese Tagesordnung nachträglich mit einer gesonderten Meldung ergänzt werden, die die Anzeige gegen Borbélys Projekt bestätigt – dies jedoch nicht mit einem eigenen Pressetext. Vielmehr beruft Budais Büro sich hier auf merkwürdige Weise auf Magyar Hírlap: „Laut Informationen der Tageszeitung hat Gyula Budai sich (…) an die Behörden gewandt.“

Und offenbar war Budai selbst zu diesem Thema am 8.1. gar nicht vorbereitet: In dieser Meldung wird seine Anzeige gegen das Borbély-Projekt lediglich bestätigt und bezüglich der Einzelheiten auf eine weitere Pressekonferenz in der nächsten Woche verwiesen.

Warum Magyar Hírlaps Interesse am „kleinen Fisch“ Borbély?

In den folgenden Tagen brachte Magyar Hírlap nur ab und zu etwas zu den Philosophenprozessen, offenbar hatte das Thema für die Zeitung nicht dieselbe Priorität wie für die Magyar Nemzet; auch brachte man im Vergleich zum dort Veröffentlichten keine neuen oder anderen Informationen. Am 13. und 14. Januar jedoch veröffentlichte Magyar Hírlap je einen längeren Bericht nur zum Borbély-Projekt (s.o.); die Projekte der anderen Betroffenen werden nicht erwähnt.

Somit hat Magyar Hírlap einschließlich des Artikels vom 8. Januar insgesamt drei Artikel zu den Philosophenprojekten veröffentlicht, die besser informiert waren als die in der Magyar Nemzet, und alle drei bezogen sich ausschließlich auf Borbélys Projekt.

Dieses lebhafte Interesse für Borbély, der im Vergleich mit den Prominenten Heller, Vajda und Radnóti ein „kleiner Fisch“ ist, deutet auf besondere Interessen im Hintergrund hin – wie Tamás Demeter sie zweifellos hatte, er hatte Borbély ja bereits im vorigen Juli angezeigt. Darüber hinaus verfügt er über gute Kontakte „nach oben“, über die er von Budais Anzeige (datiert vom 5.1.) frühzeitig erfahren haben kann.

Interessant ist hier das Timing. Am 13. Januar hatte Tamás Demeter nämlich die Verhandlung seiner Presseklage gegen die Népszava, und es mußte seiner Sache dienlich sein, wenn zeitnah publik wurde, daß gegen das Projekt seines „Widersachers“ György Gábor (Teilnehmer am Borbély-Projekt) auch von ganz Oben Anzeige erstattet worden war. Vom Ausgang dieses Verfahrens hing immerhin Demeters Stellung als Vizedirektor des Instituts ab. Der dritte Artikel zu Borbély erschien zwar einen Tag später, am 14. – aber die Redaktion hatte wohl ihr eigenes Konzept, und dieser dritte Artikel wollte nicht nur Borbély, sondern auch den ehemaligen sozialistischen Kultusminister István Hiller belasten, der Borbélys Projekt 2007 gefördert hatte.

Am 13. Januar verlor Demeter seine Presseklage gegen die Népszava in zweiter Instanz und damit endgültig.

Dadurch hat sich für ihn nur so viel geändert, daß er nun endgültig nicht mehr Vizedirektor, aber weiterhin im Institutsvorstand ist. Außerdem hat er weiterhin seine zwei vollen unbefristeten Stellen an der Universität Miskolc und am Institut für Philosophie an der Ungarischen Akademie der Wissenschaften – in seinem Alter (Jahrgang 1975) eine absolute Ausnahmeerscheinung, besonders bei den Philosophen. Zwei volle Stellen haben in ganz Ungarn nach unseren Informationen nur Institutsleiter János Boros und Tamás Demeter.

Update: Weiterlesen in Teil 3 vom 27.2.2011: Das „Voldemort-Phänomen“.

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  1. Fekete Péter permalink
    15. Februar 2011 16:07

    Sehr scharfsinnig! Endlich jemand, der auch den Hintergrund ausführlich recherchiert!

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