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Romakinder in Tarnabod: „Wo das Christkind Butterbrote bringt“

19. Februar 2012

Aus aktuellem Anlass – der Film „Csak a szél“ von Bence Fliegauf über die Roma-Morde in Ungarn gewann gestern den silbernen Bären, den Amnesty-Filmpreis sowie den Friedensfilm-Preis – heute ein Post über Romakinder in der ungarischen Provinz.

Tarnabod ist ein 850-Einwohner-Dorf 80 km östlich von Budapest, es ist ein „Aufnahmedorf”, in dem der Malteser Hilfsdienst obdachlosen Familien ermöglicht, ein neues Leben zu beginnen. Arbeit gibt es weit und breit keine (auch die großen Betriebe im nahen Hatvan sind schon lange stillgelegt), ein wenig gibt es nur im örtlichen Demontagebetrieb zu verdienen, einem Projekt, bei dem Elektroschrott zerlegt und zum Recycling vorbereitet wird. Es ist ein bitterarmes, zum größten Teil von Roma bewohntes Dorf, und die Kinder bekommen nur in den Kindertagesstätten der Malteser zu essen, Winterkleidung haben die wenigsten, bei vielen sind zuhause Strom und Gas abgeschaltet.

Auch Tarnabod war Tatort der Romamordserie. Am 29. 9.2008 wurde auf fünf bewohnte Häuser geschossen und auf einige von ihnen Molotovcocktails geworfen, zu Tode kam hier aber niemand. (Siehe: Essen für die Kinder in Tarnabod! 4. Dezember 2011, Spendenaktion; siehe auch taz: Roma in Ungarn. Obdachlose für die Dörfer, 6.4.2010.)

Der folgende Artikel erschien am 11.12.2011 in der Népszabadság. Übersetzung Clemens Prinz, literatur.hu.

Wo das Christkind Butterbrote bringt

Gabriella Valaczkay

VATER UNSER, DER DU BIST IM HIMMEL

„Ich weiß nicht, woher die Rettung gekommen ist. Vielleicht sogar aus Eger“, stottert Erika Veres-Milibák, die Direktorin der Kindergartens und der Grundschule Tarnabod (1), deren Erhalter der Malteser Hilfsdienst ist. Sie hebt auf dem staubigen Schulhof gerade an zu erzählen, auf wie viele verschiedene Arten in den letzten Jahren der Ungarische Malteser Hilfsdienst den Bewohnern dieses Dorfes im Komitat Heves unter die Arme gegriffen hat. Sie schafft es aber niemals mehr als drei Sätze auf einmal zu sagen. Vor ein paar Minuten hatte ihr Telefon geklingelt, weil ein Mädchen aus der Oberstufe (2) im Klassenzimmer ohnmächtig geworden war.

Im Dorf ordiniert wöchentlich zweimal ein Arzt, er pendelt hierher, aber die Sprechstunden fallen oft aus. Wenn zu einem dringenden Fall die Rettung gerufen werden muss, können die Dörfler niemals wissen, aus welchem Ort das Auto geschickt wird, also kann es bis zum Auftauchen der Rettung zehn, zwanzig oder dreißig Minuten dauern. In diesem Dorf gibt es jedoch öfter plötzliche „Unpässlichkeiten“ wie diese. Die Malteser betreiben zwar die Schule, den Kindergarten, einen Betrieb und organisieren Nachmittagsbetreuung und Nachhilfe, einkaufen können sich aber dann doch nicht jeden Tag für die Großteils arbeitslosen Familien. Viele der 127 Schüler und 69 Kindergartenkinder des 850-Einwohner-Dorfes essen in der Nachmittagsbetreuung das letzte Mal und nach erst tags darauf die 10-Uhr-Mahlzeit. Die Wochenenden dauern in dieser Gegend also unheimlich lange.

(Foto: Népszabadság)

GEHEILIGT WERDE DEIN NAME
„Verschleppte Mandelentzündung. Der Kreislauf des Mädchens wurde dadurch so geschwächt, dass es in Ohnmacht fiel“, seufzt die „Frau Direktor“, das hätten die Rettungsleute gesagt. Nicht nur die Kinder im Dorf, auch die Eltern nennen sie so – eine Mutter gerade jetzt, am Telefon: Eine Familie mit vier Kindern, der Strom ist ausgeschaltet, das Brennholz ist aus. Der Vater und die Mutter haben sich wie auch andere 120 aus dem Dorf bei der Befogadás Nonprofit GmbH gemeldet, sie ist neben den 11 Projekten der Malteser ein weiterer Motor von Tarnabod und wird von Miklós Kohányi geführt, der seit sieben Jahren in der Gemeinde tätig ist. Im Demontagebetrieb für Elektroschrott arbeiten 30 Leute, die Eltern mit den vier Kindern sich nicht mehr aufgenommen worden. Erika Veres‘ nächste Aufgabe ist nun, für die hoffende Mutter am anderen Ende der Leitung zu organisieren, dass sie am Wochenende für ihre Familie kochen kann.

Im Hilfspaket, das die Frau heute Morgen erhielt, hat sie alle möglichen haltbaren Lebensmittel vorgefunden, nur war kein Fett dabei, mit dem sie die Lebensmittel zubereiten könnte. „Schaut mal ins Lager, da sind noch zwei Kilo Schmalz, es kommt gleich jemand und holt sie ab“, sie telefoniert wiederum, jetzt spricht sie mit der Leitung des Kinderhauses Biztos Kezdet. (3) In diesem Gebäude gibt es eine Mutterberatungsstelle und an den Vormittagen können die Mütter hier mit ihren Kleinkindern spielen. Sie sind hier nicht nur im Warmen und bekommen eine Mahlzeit, sondern sie können auch grundsätzliche Gemeinschaftsmuster von den Betreuerinnen und voneinander lernen. Als der Hilfsdienst den neuen Kindergarten eröffnete, war man damit konfrontiert, dass in dieser Umgebung die Erziehung anderswie begonnen werden muss. Sagt man zum Kind – „Kleines, stell doch das Spielzeug ins Regal“ und es reagiert nicht, tut es das nicht, weil es böse wäre, ungezogen oder taub, sondern weil es das Wort „Regal“ noch nie gehört hat.

DEIN REICH KOMME
„Wär‘ der Hilfsdienst nicht gekommen, hätte man die Schule vielleicht gar nicht mehr aufgesperrt“, erzählt der Vorsitzende der lokalen Romaselbstverwaltung, József Farkas. „Letztes Jahr musste mehrmals der Unterricht ausfallen, weil es in den Klassen nur zehn Grad hatte.“ Davon spricht der Vorsitzende nicht, dass vor der Übernahme der Grundschule durch den Malteser-Stab, viele von den Oberstuflern nicht einmal ihren Namen schreiben konnten.

Jetzt glitzern auf den Korridoren der Grundschule (wo auch der Großteil des Lehrerkollegs ausgetauscht wurde) in heimeliger Wärme Schneeflocken aus Pappe. Das Konferenzzimmer liegt jetzt zwar im Hof in einem Baucontainer, aber dafür ist das Gebäude bis in den hintersten Winkel voller wissbegieriger Kinder. Durch die dünnen alten Fenster des Turnsaales dringen lautstark die Gesänge, die für das Hirtenspiel geübt werden, in die Klassenzimmer. Doch werden nun das erste Mal in der Geschichte des Dorfes in einen eigenen Raum die leicht oder schwerer geistig behinderten Schüler und auch Schüler, die mit Lernschwierigkeiten zu kämpfen haben, unterrichtet. In der Schule wird nun auch Tanz unterrichtet, Romanes und Englisch, Schwimmen wird gelehrt und therapeutisches Reiten findet statt. Seit September sind auch die Elternkonferenzen anders als bisher üblich: Nachdem die Schule nicht nur für das Lernen der Kinder verantwortlich ist, sondern oft für das ganze Leben von Familien Verantwortung übernehmen muss, sitzen in den Klassen neuerdings nicht nur Väter, Mütter und Klassenlehrer, sondern auch Psychologen, Leute von der Fürsorge und manchmal auch Polizisten.

„Wir müssen die Sachen immer so servieren, dass die Eltern sagen: Wir würden etwas brauchen“, erklärt die Direktorin. „Wenn man ihnen direkt helfen will, akzeptieren sie das nicht. Eigentlich gibt es für die pädagogische Arbeit in Tarnabod keine schriftlichen Regeln, die Erzieher müssen ihre eigenen Methoden erfinden. Was sehr schwer ist, weil hier die Kinder kaum erzogen sind. Bei Diskussion ist jener Sieger, der am lautesten brüllt. Die Menschen können hier nicht argumentieren, ja nicht einmal ihr Problem formulieren. Es passiert mir oft, dass ich die Straße hinuntergehe und mir eine Mutter entgegenkommt, mit lauter Stimme hebt sie an: ’Stellen Sie sich vor, Frau Direktor…’ Sie redet sich in Rage und rechnet damit, dass ich zurück brülle. Da kommt dann die schon erfolgreich getestete Lächeltherapie zum Einsatz: Ich bleibe stehen und warte, bis sie sich ausgetobt hat, dabei lächle ich. Sobald sie merkt, dass ich sie nicht besiegen will, ja ihre Sorgen verstehe, ist sie butterweich.“

Vergeblich würde Erika Veres-Milibák, die ihr Leben lang mit Romakindern gearbeitet hat, erzählen, dass man von diesem Kinder etwas bekommt, was man in einer „normalen“ Schule niemals kriegen würde. Als wir ein Klassenzimmer betreten, hüpfen die Drittklässler aus ihren Bänken. Gleichzeitig umarmen vier Erika an den Hüften. Solche Szenen sagen mehr als tausend Worte. Später auf dem Gang zieht die Direktorin einen von den 16-jährigen zu sich hin. „Ich bin auf dieses Kind unheimlich stolz. Er geht erst seit ein paar Wochen ins Schwimmbad und zuletzt hat er schon das ganze Becken der Länge nach durchschwommen. Ist schon in Ordnung, mein Junge, du kannst wieder gehen“, damit entlässt die Direktorin den stoppelbärtigen Achtklässler.

„Dieser Bub ist 16 Jahre alt, er ist bisher durch sein Leben gestolpert, niemand hat ihn jemals für etwas gelobt. Jetzt kommt er wöchentlich einmal mit strahlendem Gesicht aus dem Schwimmbad nach Hause. Unsere Arbeit kann keiner bezahlen. Aber man darf ihrer auch nicht müde werden. Auch wenn man einen zuhause schon aus der Familie ausschließen will, weil man an den fünf Arbeitstagen der Woche erst nach 10 am Abend nach Hause kommt.”

DEIN WILLE GESCHEHE, WIE IM HIMMEL SO AUF ERDEN
In Tarnabod beginnt die Disziplinierung nicht mit einer Verwarnung des Klassenlehrers. Seit „der Malteser“ – wie man im Dorf den Hilfsdienst nennt – den Kindergarten und die Schule von der Gemeinde übernommen hat, haben die Pädagogen herausgefunden, welches Kind wovon so besonders aggressiv ist. Hier ist der Unterricht das geringste Problem der Lehrer. Oft müssen sie Fallbesprechungen durchführen: Wenn bei einem ihrer Schüler die Tragödie überhand nimmt, setzt sich der Vertreter der Schuldenberatungsgruppe mit dem Sozialarbeiter, dem Psychologen, der Direktorin und dem Vorsitzenden der Romaselbstverwaltung an einen Tisch.

„Jeden Tag kommen Eltern zu mir, ob der Bub, das Mädel nicht vielleicht noch so lange in der geheizten Schule bleiben könnte, bis die Putzfrau das Gebäude abschließt. Das macht sie am Abend um sieben. Von einem Teil der Schüler sitzt der Vater im Gefängnis. Nach einem Brief oder einem Gefängnisbesuch müssen wir uns tagelang mit ihnen beschäftigen, da beginnen wir dann wie die Wilden auszuschneiden, zu kleben, allerlei zu arbeiten und dabei bringen wir sie dazu, sich auszusprechen. Es ist vorgekommen, dass ein kleiner Junge einen schlimmen Wutausbruch hatte, und es dauerte einige Tage, bis sich herausstellte, dass seine Mutter, die ihn und eine Geschwister allein erzieht, Krebs hat. Am Tag bevor er die Schule auseinander nehmen wollte, musste er zuhören, wie entfernte Verwandte sich stritten, wer für sie zu sorgen hätte, wenn die Mutter vom Krebs geholt worden ist.”

UNSER TÄGLICHES BROT GIB UNS HEUTE
Alle Kinder der Schule in Tarnabod sind „m.b.P“. Mehrfach benachteiligte Personen, laut Gesetz haben sie Anspruch auf ein warmes Mittagessen, das vom Staat finanziert wird. In diesem Dorf bekommen die Schulkinder jedoch dreimal zu essen, im Kindergarten wird auch noch ein viertes Mahl mit dem nicht vorhandenen Geld zubereitet. „Wir  Kindergartenhelferinnen wissen genau, welches der 3-, 4-jährigen Kinder nur hier etwas zu essen kriegt und zu Hause nicht. Wegen ihnen stellen wir schon um 8 in der Früh ein Tablett mit Butterbroten auf, wir warten da nicht bis zehn“, erklärt die Kindergartenhelferin.

„Das mit den Leuten vom amtsärztlichen Dienst ist immer lustig, wenn sie so kommen ins Dorf mit den Kalorientabellen und uns erzählen, in welchen Lebensmitteln viele böse Kohlenhydrate enthalten sind, und dass wir Karotten zur Vesper geben sollen, weil die gesund sind“, tobt die Direktorin. „Natürlich sind sie gesund. Aber wie sollen die Kinder es bis zum nächsten Vormittag nur mit Karotten im Magen aushalten?“ „Im Lebensmittelladen im Dorf gibt es gar kein Fleisch“, mischt sich jetzt Erikas rechte Hand ein, der junge stellvertretende Direktor Imre Maszlag. „Das könnte sich eh keiner leisten.“ Ein Haus weiter frage ich die Drittklässler, was sie am liebsten essen. Zehn Hände schießen in die Höhe: Tomatensuppe! Äpfel! Quark! „Ich mag am liebsten Spaghetti!“, sagt ein kleines Mädchen mit schwarzen Augen lächelnd, als hätte sie mir von einem Streich erzählt. „Ja und womit?“, frage ich sie dumm. Sie blinzelt verwirrt und blickt auf die Lehrerin. „Spaghetti“, flüstert sie wiederum und lächelt.

UND VERGIB UNS UNSERE SCHULD
Neben Gefängnis, Prostitution, staatlicher Erziehungsanstalt, abmontierten Stromuhren, dem verheizten Parkettboden und den dauernden Streitereien müssen die Kinder hier noch zwei weitere Dinge gewöhnen: Alkoholfahnen und Zigarettenrauch, zwei Dinge, die hier noch glücklich machen. Erika Veres-Milibák unterrichtete schon einen Kettenraucher, er war 11, aber auch ein Kind, mit dem die Eltern, wenn es „böse“ war, umgingen wie mit einem Hund. „Schauen Sie, seit September weiß ich, dass hier die Probleme viel größer sind, hier geht es nicht um einfache Verhaltensstörungen“, erklärt der 72-jährige Romadichter, Schriftsteller, Journalist, Literaturübersetzer und Pädagoge, József Choli Daróczi, bevor er in der achten Klasse die Romanesstunde beginnt. Die Tafel ist schon voll von seinen dünnen, krakeligen Buchstaben: Amaro raj, Devla / Kon san ando Cheri / Te svuncisajvelpe tyo anav / Te aveltar tyo them… Das Vaterunser in Romanes ist Lehrstoff der heutigen Stunde, obwohl Onkel Choli (so wird er in Tarnabod genannt) die Sprache hier nicht unterrichtet, damit die Jugend sie mal fließend spricht. Sondern weil er glaubt: Sprache schafft Gemeinschaft.

„Gibt es keine Gemeinschaft, verfällt die Moral, verfällt der Anstand. Zerfällt das Dorf! Hier liegen die Probleme tief. Die Grundschüler schmuggeln die Milch, die sie zur Vesper bekommen haben, aus der Schule für ihre kleinen Geschwister nach Hause. Wenn meine Schüler in das Klassenzimmer treten, stellen sie sich alle gleich an den Heizkörper, weil selbst ihre Seele friert. Neunzig Prozent der Dorfbewohner warten nur auf die Sozialhilfe. Es wäre eine gute Idee, würden die Roma beginnen, rund um ihr Haus ein wenig etwas anzubauen, aber wenn ein Agraringenieur daherkommt und erklärt wie man Tabakpflanzen ansetzt? Wenn ich nicht weiß, was Tabakpflanzen sind. Oder er sagt, dass ich entlang der Furche pflanzen soll. Was ist eine Furche? Was ist denn Landwirtschaft? Verstehen Sie? In dieser Gemeinde haben drei Leute Abitur. Die anderen leben geistig und seelisch im Nihil. Ich sage es nochmals: Hier muss man sich nicht mit der Schule beschäftigen, sondern mit ganz Tarnabod.”
„Und wessen Aufgabe wäre das?“, frage ich.
„Na, die meine.“
„Warum?“
„Weil ich József Keresztény Isten heiße. Dessen Aufgabe es wäre…“ (4)

WIE AUCH WIR VERGEBEN UNSEREN SCHULDIGERN
Es ist kein Zufall, dass der Spitzname der niederländische Mäzenin, der verblichenen W.J. von Wetten-Rensen, nicht auf den Buchstaben genau über das Tor der Spielstube in Tarnabod geschrieben wurde. Die Gönnerin, die vor kurzem verstorben ist – mit ihrem Geld konnten die Malteser das Mietrecht der Kneipe am Dorfplatz erwerben, um 2007 dort eine öffentliche Spielstube, später dann eine Mensa für die Schüler einzurichten – wurde nämlich Tante Miep genannt. Die Mitarbeiter des Hilfsdienstes hielten es aus mehreren Gründen für klüger, dass in dem Dorf, das auf der Liste der Romamorde gestanden war und wo Romahasser 2008 Molotowcocktails auf Romahäuser warfen, auf der Namenstafel der Einrichtung am Dorfplatz der Buchstabe „e“ im Spitznamen „Miep” wie zufällig vergessen wird. (Anm.: MIÉP – rechtsextreme Partei des kürzlich verstorbenen István Csurka.) Jetzt trägt die Spielstube, wo jeden Nachmittag hiesige Frauen, die in Kinderbetreuung geschult wurden, auf die Schüler aufpassen, den Namen Tante Mip. Dadurch werden natürlich noch keine Probleme gelöst, und obwohl in Tarnabod keiner davon spricht, nimmt sich der Vorsitzende der Romaselbstverwaltung kein Blatt vor den Mund: „Bei uns kann die Situation nie so eskalieren wie in Gyöngyöspata.”

UND FÜHRE UNS NICHT IN VERSUCHUNG
József Farkas erzählt auch, wie dem größten Teil der Dörfler „vor dem Malteser“ von Wucherern die Existenz zerstört worden war. Jedes Menschenkind hatte Schulden, manche standen mit Zehntausenden in der Kreide, dem Zwanzigfachen von dem, was sie geborgt hatten. „Es gibt hier Familien, denen die Minderheitenselbstverwaltung dabei helfen will, den Strom wieder einzuschalten, weil die Kinder bei Kerzenlicht, in der Kälte ihre Hausaufgaben schreiben müssen. Aber ich trau mich nicht einmal, ihnen ein Kilo Fleisch zu geben, das würden sie wegen der alten Geschichten auch als Versuch zum Wuchern betrachten.“ Natürlich könnte József Farkas sagen, bei ihnen sei die Situation noch besser, es gibt ein Dorf, wo die Lehrer den Kindern die Schulbücher nicht nach Hause mitgeben, weil sie Angst haben, dass die Eltern damit einheizen.

SONDERN BEFREIE UNS VON DEM BÖSEN
„Es ist einfach eine Sünde, diese Kinder unter den gleichen Voraussetzungen zu testen und zu versorgen, wie die Sprösslinge der Budapester Intelligenzija. Genau wie es unmöglich ist, die Befolgung der staatlichen Ernährungsnormen von uns zu verlangen, so ist das auch mit den verpflichtend vorgeschriebenen Kompetenztests. Aber ich sag Ihnen ein anderes Beispiel: Mit meinen schlaksigen pubertierenden Jungen fuhren wir in eine nahe Gemeinde, um einen Betrieb zu besichtigen. Die Jungen drängten sich am Eingang nach vorne, mich, die ich ganz hinten ging, sah der Betriebsleiter nicht. Als er sah, dass sie Roma waren, schmiss er sie aus der Fabrik, dass ihre Füße kaum den Boden berührten.
Sie können mir glauben, dass seit den Romamorden auch die Polizisten, die in Tarnabod Streife fahren, schon unser „Erziehungsprogramm“ über sich ergehen lassen mussten. Wenigstens hundert von ihnen. Wenn wir am Abend von der Arbeit nach Hause fahren, werden wir regelmäßig angehalten und kontrolliert. Wenn sich herausstellt, dass wir aus der Schule kommen, werfen sie mitleidsvolle Blicke durch das Autofenster. Ich würde jeden Tag eine halbe Stunde früher zu Hause sein, wenn ich nicht immer diesen Drang verspüren würde, ihnen zu erklären, was der Unterschied zwischen dem Leben ihrer Kinder und dessen meiner Romakinder ist.”

DENN DEIN IST DAS REICH. UND DIE KRAFT UND DIE HERRLICHKEIT, IN EWIGKEIT.
In einer Entfernung von acht Minuten Fußmarsch von der Schule trottet zwischen einem Schafstall und einem Misthaufen an einer Longe Csinos, das Therapiepferd von Tarnabod. Am anderen Ende der Longe befindet sich Gergely Kovács, Lehrer für Heilturnen und Reittherapie, der aus Mezőkövesd hierher kommt. Dafür dass die zwei Achtklässler und die zwei Fünftklässler in ihrem Leben erst das achte Mal auf Csinos klettern, versuchen sich schon an wagemutigen Kunststücken, vom Knien mit einem Bein bis zum Hocken auf dem Pferderücken. Während einer von ihnen auf dem Tier übt, machen die anderen Gymnastik.

„Der Malteser, dass er im Dorf ist, ist schon was Gutes, oder?“, frage ich die Buben, die am Stand laufen.
„Ja. Besonders das Reiten und das Schwimmen“, schnaubt das Kind, das am ältesten aussieht, seine Koteletten sind gerade rasiert, er sieht schon fast wie ein Mann aus. „Die Schule, die ist aber strenger. Das ist aber nicht weiter schlimm. Früher haben wir in der Stunde gemacht, was wir wollten. Jetzt üben wir sehr viel, vielleicht können wird später dann sogar weiterlernen. Was für ein Schweißer ist das gleich? Staatlich geprüfter! So was werde ich mal.“
„Ich Automechaniker oder Wachmann“, kontert der andere.

„Und was wird aus dir?“, frage ich den ruhigsten, den schmächtigsten von allen.
„Ich geh ins Ausland. Oder nach Budapest. Ich war mit den Maltesern schon mal dort. Es war schön. Wir waren im Palast der Wunder und im Vergnügungspark. Wir durften mit allem fahren, sogar mit dem Riesenrad. Aber da ist mir schlecht geworden. Ich kann auch schon ein bißl Englisch. „Mei Nehm is Jantschi Lakatosch!“, er kichert und rollt sich in seinem Trainingsanzugsoberteil zusammen.
In der Schüssel für den Hund ist das Wasser steinhart gefroren.
„Die Frau Direktor wird schon sehen, ich werde Metzger mal, in England!“

AMEN.

(c) Népszabadság, Gabriella Valaczkay 2011 (Gewinnerin Journalistenpreis Osteuropa 2008)

Anmerkungen:

(1) http://g.co/maps/99kkb

(2) Mit der Oberstufe ist hier die obere Stufe der Grundschule gemeint. In Ungarn gibt es keine Grundschulen und Hauptschulen, sondern 8-jährige Grundschulen.

(3) Ein sicherer Anfang

(4) Wortspiel mit dem Namen „Keresztény Isten” (christlicher Gott). Also Gott müsste sich um das Dorf kümmern.


Fotos: Krisztián Bócsi

6 Kommentare leave one →
  1. Judith B. permalink
    19. Februar 2012 20:12

    Beklemmend. Und sehr eindrucksvoll. Vielen Dank

  2. 22. Februar 2012 00:16

    Unglaublich bewegend und traurig, aber sehr gut geschrieben. Da macht es gar nichts, dass die Übersetzung nicht perfekt ist. Irgendwie musste ich immer an die deprimierenden Dörfer aus Béla Tarrs Filmen denken.

    • 29. Februar 2012 13:55

      haben wir wieder mal einen übersetzungstechnischen eiferer ausgefasst. kritik an der übersetzung muß konkret mit beispielen geübt werden, außerdem würden auch mindestens 5 publizierte übersetzungen nicht schaden, aus dem ungarischen natürlich. dann können wir diskutieren.

  3. afggg permalink
    9. März 2012 20:08

    so wichtig solche berichte sind, solange nicht vielmehr artikel positives berichten werden sich die vorurteile in den köpfen der mehrheitsgesellschaft nicht ändern. und solange sich die nicht ändern wird sich vermutlich nichts ändern. eins ist in den berichten über das elend der roma nämlich zumindest unterschwellig inkludiert: sie sind arm, verelendet, von hilfe abhängig, unselbsttändig, irgendwie anderes. letzten endes bestätigt das die voruteile und zementiert sie weiter.
    was es meines erachtens viel mehr braucht sind berichte wie z.B. hier http://www.kulturama.org/articles/view/133
    oder irgendetwas was normalität vermittelt und stereotypen aufbricht.
    und meine cigány freunde gehen ganz normal arbeiten, schlagen sich mit den selben niedriegen mindestlöhnen rum wie die meisten anderen ungarn hier in meiner umgebung auch, ihr kind geht auf die ganz normale schule im nachbardorf wie alle anderen und es wird wert auf bildung gelegt. und soweit ich das bei den andern cigány familien verfolgen kann, die ich nicht so gut kenne, sieht das ganz ähnlich aus.
    es findet immer noch genug ausgrenzung statt, schön reden muss man das nicht, trotzdem gibts es die ganz normale teilhabe am dorfleben auch.

    p.s: und jetzt bitte keine diskussion über die verwendung von dem wort cigány, sie verwenden es selber, können mit dem begriff roma nicht viel anfangen und gehören auch nicht zur gruppe der roma – gibt ja noch ein paar mehr.

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