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Wenn Aussichtslosigkeit unter Strafe steht. Ein Kommentar

2. Oktober 2013

Die Kriminalisierung von Obdachlosen wurde in der Verfassung festgeschrieben – ein Kommentar aus der Praxis.

Gastpost von Elisabeth Katalin Grabow*

Man kann der Regierung Orbán viel vorwerfen, Untätigkeit fällt jedoch nicht darunter. Keine andere Regierung hat so viele Gesetze verabschiedet, so viele Verfassungsänderungen in so kurzer Zeit durchgepeitscht und so oft die Parole ausgegeben „Ungarn erfüllt besser“[bzw. Ungarn leistet mehr, macht’s besser]. Kein Wunder also, dass auch in der Pressemitteilung zum jüngst verabschiedeten und heftig kritisierten Gesetz zur Obdachlosigkeit von Selbstzweifel keine Spur ist.

Denn „heute ist für die Versorgung eines jeden Obdachlosen gesorgt“ und „statt leerer Worte wird Obdachlosen heute mit Taten geholfen: Heute ist es die Aufgabe der Selbstverwaltungen, Obdachlosigkeit zu verhindern und Menschen auf der Straße zu helfen“. Um es mit den Worten eines um Anonymität bittenden Sozialarbeiters zu sagen: „Seltsamerweise merken davon weder die Obdachlosen selbst, noch wir in dem Bereich Arbeitenden etwas davon.“

Die Kritik am neuen Gesetz von fachlicher Seite liest sich wie eine „Dont’s“ der Sachpolitik. Als wohl wichtigster Punkt sei angemerkt, dass es im Vorfeld keinerlei fachliche Konsultation gab. Mit keiner einzigen nennenswerten Hilfsorganisation. Es wurde hier etwas beschlossen, ohne auch nur ansatzweise zu schauen, wie sieht es in der Realität aus, wie sieht es auf der Straße aus. Um dem Leser ein besseres Verständnis zu geben, hier ein persönliches „Top3“ aus 2,5 Jahren Freiwilligenarbeit mit Obdachlosen:

  • Ungarn ist ein Land, das es sich leisten kann, ehemalige Lehrer, Diplomaten, diplomierte Musiker, Ingeneure auf der Straße leben zu lassen, ihr Fachwissen, ihre Erfahrung dem Verfall anheim gegeben.
  • Ungarn ist weiterhin ein Land, in dem eine ehemalige Kinderkrankenschwester, die 40 Jahre auf einer Intensivstation gearbeitet hat, nach ihrer Scheidung mit ihrer Mini-Rente keine andere Möglichkeit hat, als in eine Obdachlosenunterkunft zu ziehen.
  • Wo ein Mensch eher auf einem Stuhl sitzend in einer Telefonzelle schläft, als in eine der Unterkünfte zu gehen, weil er dort im schlimmsten Fall bestohlen, mit Parasiten infiziert oder im besten Fall nur unausgeschlafen heraus kommt.

Premierminister Orbán besuchte im vergangenen Jahr eine neu errichtete Unterkunft für Obdachlose, um zu zeigen, es tut sich etwas. Allerdings, und das wissen die wenigsten, gibt es schon jetzt Anfang Oktober Wartelisten für Übergangsheime, das heißt, Heime, in denen minimale Anforderungen wie ein TB-Check, ein Lungenröntgen und Nüchternsein verlangt wird. Wartelisten von teils mehreren Wochen – und schon für das kommende Wochenende sind erste Minusgrade für die Nacht vorausgesagt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Sozialarbeiter im ganzen Land wieder vor die Situation gestellt werden, einen Obdachlosen entweder zu überzeugen, sich in eine Unterkunft bringen zu lassen, oder des Nachts zu erfrieren, und die Antwort bekommen: „Lieber erfriere ich, als noch mal da rein zu gehen.“ Die Alternative zu Unterkünften ist nunmehr Gefängnis, denn wer seine Strafe wiederholt nicht zahlt, dem droht genau das. Allerdings stellt sich auch hier die Frage: Wohin? Die Gefängnisse sind ebenso überfüllt wie die Obdachlosenunterkünfte. Obdachlose werden in diesem Land nicht länger wie Menschen behandelt, mehr wie Tiere. Wenn im Tierheim kein Platz mehr ist, werden nach und nach Tiere aus der Not heraus eingeschläfert.

*Die Autorin ist stellvertretende Chefredakteurin der Budapester Zeitung und arbeitet als Freiwillige im Obdachlosen- und Familiendienst, darunter bei den Stiftungen Menhely Alapítvány, RÉS Alapítvány und Menedékház Alapítvány.

Presse:

tagesschau.de: Nach Verfassungsänderung – Ungarn will gegen Obdachlose vorgehen

Spiegel Online: Ungarns Gesetze gegen Obdachlose: „Sie brauchen Sündenböcke“

„Die Regierung Orban will es jetzt machen, wie man es aus den USA kennt: Obdachlose sollen aus den Städten verschwinden. Nur, in den USA steht nicht in der Verfassung, dass sie auch bestraft werden können.“ Zeit.de: Ungarn – Gegen die Schwächsten

Das Gesetz zur Kriminalisierung der Obdachlosen tritt erst in acht Tagen in Kraft, Geldstrafen wurden von der Polizei auch bisher verhängt. Dieser Mann bekam gestern eine Geldstrafe von 50 000 HUF (168 Euro), die er vermutlich „gemeinnützig“ abarbeiten oder absitzen wird, einen Tag Haft für ca. 1000 HUF.

(444.hu)

 

 

 

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