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„Krieg“ in Sajóbábony – Verbot der Gardeuniform

17. November 2009

Was am Wochenende in Sajóbábony los war, hatte laut dem Onlineportal Index.hu etwas von einem düsteren postapokalyptischen Science Fiction. Hier die ersten Meldungen, und nun das Update.

Jobbik veranstaltet Bürgerforum

Am Wochenende veranstaltete die ultrarechte Partei Jobbik in Sajóbábony, einer Stadt mit 3000 Einwohnern in Nordostungarn, ein Bürgerforum. Bürgermeister Imre Nagy (MSZP) wollte ursprünglich seine Zustimmung verweigern, aber Gábor Bencs, Ortsgruppenleiter von Jobbik (das scheint mir hier die passende Übersetzung), sagte ihm angeblich, wenn er ihm keinen Raum zur Verfügung stelle, könne er in seiner Stadt mit einem Gardeaufmarsch mit mehreren hundert Teilnehmern rechnen.

Der Bürgermeister stellte Jobbik die Schule für eine Veranstaltung zur Verfügung. Es sollten drei Vertreter von Jobbik von auswärts kommen und Reden halten.

Zu diesem Bürgerforum wurde die Bevölkerung des Ortes offenbar gezielt eingeladen – mit Ausnahme der etwa 800 Roma des Ortes, die wußten von nichts.

Gardisten kommen von Auswärts

Am Samstag sprach sich bei den Roma aus dem Ort herum, daß ungewöhnlich viele Leute von auswärts zu diesem Bürgerforum kamen, eine Augenzeugin im Klubrádió spricht von dreißig Autos. Und diese Leute von auswärts begannen dann auf dem Schulhof, sich umzuziehen – in die Gardeuniform.

Laut der Augenzeugin wurden die Roma von Sajóbábony unruhig. Einige wollten zu der Veranstaltung – ein Bürgerforum ist schließlich öffentlich – und wurden dort von GardistInnen am Eintreten gehindert: „Hier dürfen keine Zigeuner rein“. Die Roma, die sich dort sammelten, wurden von den GardistInnen fotografiert und beschimpft. Laut Klubrádió soll auch der Satz gefallen sein: „Wir sind hier, um die Zigeuner auszuräuchern, zumindest den Bodensatz.“ (Azért jöttünk, hogy kitakarítsuk a cigányokat, legalább az alját)

Absurde Situation: Polizei schützt verbotene Garde

Darauf kam es zu heftigen verbalen Auseinandersetzungen, und nun schritt zum ersten Mal die Polizei ein, um Tätlichkeiten zu verhindern. Die Polizei löste die Veranstaltung nicht etwa auf, sondern beschützte  die uniformierten Mitglieder einer verbotenen Organisation, die zudem noch extra in großer Zahl von auswärts gekommen waren, vor den BürgerInnen des Ortes.

Eine Ohrfeige und Drohungen / Schutzmaßnahme á la Jobbik

Später kam es zu Tätlichkeiten in einem Lebensmittelgeschäft, dessen Besitzerin auch für die Sozialisten im Gemeinderat sitzt. Sie war ebenfalls auf dem „Bürgerforum“ und wurde später  von einigen Romafrauen darauf angesprochen, ob sie diese Veranstaltung organisiert habe. Es kam zum Streit, die Ladenbesitzerin wurde geohrfeigt und hat deswegen Anzeige erstattet.

Laut der Augenzeugin bei Klubrádió bestehen schon seit Längerem Spannungen zwischen dieser Frau und den ärmeren Roma, die offenbar ihre Hauptkundschaft ausmachen, angeblich  verkauft sie Lebensmittel auf Pump und nimmt hohe Zinsen. Offenbar hatten einige Roma die Ladenbesitzerin wegen der Formulierung „…zumindest den Bodensatz“ im Verdacht, die Garde gerufen zu haben. Dem war aber nicht so.

Später stellte sich heraus, wer der wirkliche Organisator der Veranstaltung war: Der Jobbik-Ortsgruppenleiter. Darauf wurde er bedroht, Einzelheiten weiß man aber nicht. Er sagt im Interview, um sich zu schützen, rief er sich für den nächsten Tag Verstärkung aus der ganzen Region herbei.

Sonntag: Verstärkung rückt an, drohende Eskalation, Polizei greift ein

Am Sonntag kamen dann Hunderte von Jobbik-Anhängern aus dem Komitat und sogar aus den Nachbarkomitaten an. Darauf bezogen mit Äxten und Stöcken bewaffnete Roma Stellung an mehreren Punkten in der Stadt. Wieder kam es zu heftigen verbalen Auseinandersetzungen zwischen Gardisten und Roma.

Einige der Neuankömmlinge fuhren als Drohmaßnahme mit dem Auto die von Roma bewohnten Straßen ab, wurden jedoch zurückgedrängt, und als ein Auto schnell davonfahren wollte, fuhr es einen Jugendlichen an. Was dann passierte, erinnert an den Lynchmord von Olaszliszka. Bewaffnete Roma demolierten den Wagen und griffen die Insassen an.

Inzwischen waren große Polizeieinheiten von außerhalb angerückt, die Polizei griff massiv ein und trennte die beiden Lager voneinander. Die Polizei forderte die Roma auf, nach Hause zu gehen, und versuchten, Ortsfremde aus der Menge herauszufiltern.

Augenzeugin im Klubrádió: „Wir dachten uns, warum müssen wir nach Hause gehen, wir wohnen doch hier, und die kamen von außerhalb. Aber wir sind anstandslos gegangen. Wir haben mit der Polizei kooperiert.“

Die Polizei riegelte alle Zufahrtsstraßen zum Ort ab und ließ nur noch AnwohnerInnen hinein, die sich ausweisen konnten.

Verhaftungen, Anzeigen

Die Autodemolierer wurden verhaftet und bekamen Anzeigen wegen Vandalismus und Landfriedensbruch; in zwei Fällen gab es auch Anzeigen wegen Gewalt gegen eine Minderheit. Verletzt wurde niemand, der angefahrene Jugendliche hat sich inzwischen erholt.

Zu diesem Zeitpunkt berichteten die ultrarechten Onlinemedien schon ihre Version der Geschehnisse: „Nacht der tausend Zigeuner – ‚heute bringen wir alle Ungarn um’, arme unschuldige Ungarn wurden grundlos von wilden Zigeunerhorden angefallen etc.

Nachtwachen

Fast die ganze Nacht lang brannten in Sajóbábony Wachfeuer, um die sich die AnwohnerInnen scharten, denn viele Romafamilien wohnen am Ortsrand und hielten es nicht für sicher, die Nacht zu Hause zu verbringen.

Als die Journalisten von Index.hu aufbrachen, um die Wachtposten der Roma an den Lagerfeuern zu besuchen, sagten ihnen die Polizisten: „Nur auf eigenes Risiko – wir raten Ihnen davon ab.“ Die Reporter gingen trotzdem, passiert ist ihnen nichts, hier der Videoreport.

(Index.hu)

Bis Montagmorgen war wieder Ruhe eingekehrt. Die Polizei blieb weiterhin vor Ort präsent.

Montag: Verhandlungen und Statements

Am Montagmorgen gab es ein Krisengespräch von Gemeinde- und Romavertretern im Bürgermeisteramt. Wie der Bürgermeister sagte, kam man überein, daß die Anführer beider Seiten ihre aufgebrachten Leute beruhigen sollten; es wurde auch beschlossen, eine Bürgerwehr einzurichten, in die auch Roma aufgenommen werden.

Romavertreter: Jobbik provoziert

Aladár Horváth, Vorsitzender der Stiftung für die Bürgerrechte von Roma (Roma Polgárjogi Alapítvány), dazu:

Jobbik verschärft bewußt die Gegensätze zwischen den Einwohnern, zwischen Roma und Nicht-Roma. Allein schon die Uniformen der Garde erfüllt die Roma mit Angst, und besonders dann, wenn sie in Formation marschieren. Man muß den Roma klar machen, daß sie sich nicht provozieren lassen dürfen. Nicht einmal dann, wenn sie zu Recht das Gefühl haben, daß ein Teil der für ihre Sicherheit verantwortlichen Polizei mit Jobbik sympathisiert. Seit den Romamorden reagiert die Romabevölkerung noch sensibler auf solche Situationen, denn die Täter gehören dem ultrarechten Spektrum an. Laut Aladár Horváth können Fidesz und MSZP die Situation nur gemeinsam lösen, denn ansonsten begünstigen sie es, daß Jobbik an die Macht kommt.

Angesprochen auf die bewaffneten Roma sagte er: „Es ist das Minimum, daß dieses Land mit der Vorstellung von Kollektivschuld und kollektiver Verantwortung bricht. Wenn jemand eine Straftat begeht, folgt nicht daraus, daß alle Roma dafür büßen müssen.“

Edit: Hier ist er im ATV-Interview.

Bürgermeister von Miskolc: Die Politik ist gefragt

Laut Sándor Káli, dem Bürgermeister von Miskolc (MSZP), bereitet sich das Land nicht mehr auf die Wahlen, sondern auf immer heftigere Zusammenstöße und bürgerkriegsähnliche Zustände vor. Er appelliert: Die Politiker müssen sich jetzt nicht auf die Wahlen, sondern auf die Schaffung von Frieden konzentrieren, und mit Zuversicht und Engagement dafür arbeiten, für die Bewohner der ärmsten Gegenden von Ungarn die Ordnung wieder herzustellen.

Kabinett für nationale Sicherheit tagt

Anläßlich der Vorkommnisse von Sajóbábony trat das Kabinett für nationale Sicherheit  in einer außerplanmäßigen Sitzung zusammen. Regierungssprecher Domonkos Szollár: Was in der Gemeinde geschehen ist, gibt Anlaß zur Beunruhigung, und man kann nicht einfach zur Tagesordnung übergehen angesichts dessen, daß eine verbotene Organisation, die Ungarische Garde, in einer zugespitzten Situation die Minderheitsbevölkerung provoziert und mit einer Gendarmerie bedroht.

Jobbik: Regierung unfähig gegen den „Zigeunerterror“

Jobbik-EU-Abgeordneter Csanád Szegedi veröffentlichte eine Erklärung auf der Website der Partei:

„Zigeuner“ hätten „friedliche Bürger“ angegriffen, die Polizei- und Strafverfolgungsbehörden seien unfähig, „das ungarische Volk vor dem Zigeunerterror“ zu schützen. Wenn der Staat das nicht kann, müsse das “die Ungarische Garde” übernehmen. Er forderte erneut die Einführung einer Gendarmerie neben der Polizei, “mit entsprechenden Befugnissen.”

Am Dienstag hielt Jobbik-Vorsitzender Gábor Vona eine Pressekonferenz in Sajóbábony ab, mehr dazu später.

Gardeuniform wird strafbar

Bisher wurde das Gardeverbot nicht konsequent umgesetzt. So konnten auch am Wochenende 600 GardistInnen völlig unbehelligt auf einer Gedenkfeier für Miklós Horthy in Kenderes aufmarschieren, organisiert vom dortigen Bürgermeister und Gemeinderat (siehe mein Post). Von Polizeiseite wird oft argumentiert, daß es „keine Vorfälle gab, die ein Eingreifen der Polizei erforderlich machten.“

Jetzt wird sich das ändern:

Die Teilnahme an Aktivitäten einer verbotenen Organisation und das öffentliche Tragen ihrer Uniform wird in Zukunft mit Geldstrafen bis zu 50.000 HUF (ca. 188 EUR) geahndet; die entsprechend geänderte Verordnung wird am Mittwoch bekannt gegeben und tritt am Donnerstag nächste Woche in Kraft, so die Presseabteilung des Justizministeriums gestern gegenüber der ungarischen Nachrichtenagentur MTI. Und in Zukunft bestimmt das Gericht, ob eine Uniform Hinweise auf die Zugehörigkeit zu einer verbotenen Organisation gibt, das heißt, verboten wird nicht konkret die aktuelle Gardeuniform – uns doch egal, ziehen wir halt was anderes an –  sondern alles an einheitlicher Kleidung im Zusammenhang mit Gardeaufmärschen. (So habe zumindest ich das verstanden.)

(Edit: Hier der Standard dazu: „Öffentliches Uniformverbot für rechtsextreme Gardisten“)

Jetzt ist die Situation eindeutig für die Polizei – sobald sie Uniformen sieht, muß sie einschreiten.

Ich meine, der Schritt ist zu begrüßen, aber kommt viel zu spät. Denn jetzt geht der Wahlkampf los, und Jobbik profiliert sich als Partei der „Widerstandskämpfer“ gegen die „judeobolschewistische Diktatur“. Die werden sich von den Sozis nichts mehr verbieten lassen, sondern es drauf ankommen lassen. Weitere Konflikte sind vorprogrammiert.

Quellen:

Pester Lloyd, Népszabadság, Index, Népszava, Kossuth Rádió, Klubrádió (Sendung Kontra am 16.11.), HVG (Gute Fotos!), MTI,

European Tribune (Englisch)

Edit: Andere dazu:  ORF Volksgruppen, Caboodle.hu , Hungarian Spectrum (Englisch)

Update 18.11.:

Wer sagt’s denn – die Ungarische Garde hat prompt eine Erklärung rausgegeben. Sie sagen, das Uniformverbot verstößt gegen nationales Recht und EU-Recht (ein Urteil des Europäischen Menschengerichtshofs), sie werden rechtliche Schritte einleiten. (Sollen sie mal.)

Am Ende der Erklärung dann der Aufruf zum „zivilen Ungehorsam“:

Die Uniform unserer Bewegung ist ab sofort das Symbol des Widerstands! Wir rufen unsere Kameraden, Unterstützer und Sympathisanten auf, die Uniform oder Symbole der Neuen Ungarischen Garde als Protest gegen die diktatorischen 50er-Jahre-Methoden (der Regierung) stolz und in großer Zahl zu tragen!

Das dauert nicht lange, bis es wieder irgendwo kracht.

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