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Erstes Urteil wegen rassistischer Gewalt: Hohe Haftstrafen für Roma

11. November 2010

In einem gestern veröffentlichten Bericht drückt Amnesty International Besorgnis über die Lage der Roma in Ungarn aus und kritisiert den Umgang der ungarischen Behörden mit rassistisch motivierten Verbrechen:

The Hungarian authorities have a duty to prevent discrimination and to ensure justice for victims of hate crimes. This includes the obligation to investigate whether or not racial and ethnic hatred or prejudice played a role in these and any similar attacks,“ said Nicola Duckworth, Europe and Central Asia Programme Director for Amnesty International.

By combating racism and racial violence, the authorities will send an important message that diversity should not be perceived as a threat. They must send a clear message that racism will not be tolerated. (Amnesty)

Die UN-Menschenrechtskommission bemängelt Ähnliches:

The State party should adopt specific measures to raise awareness in order to promote tolerance and diversity in society and ensure that judges, magistrates, prosecutors and all law enforcement officials are trained to be able to detect hate and racially motivated crimes.

Die ungarische Justiz dreht das Ganze jetzt einfach um.

Rassistisch motivierte Verbrechen werden in Ungarn durch den Paragraphen 174/B des bürgerlichen Gesetzbuches sanktioniert, der Begriff heißt közösség elleni erôszak, wörtlich „Gewalt gegen eine Gemeinschaft“, und bezieht sich auf ethnische Minderheiten, aber auch auf Homosexuelle im Sinn von „community“. Das Strafmaß ist mit 2-8 Jahren Haft bedeutend höher als bei Körperverletzung und Landfriedensbruch.

Nun kam dieser Paragraph in Ungarn erstmals zur Anwendung: In Miskolc wurden elf Roma wegen rassistisch motivierter Gewalt gegen Magyaren zu insgesamt über 41 Jahren Haft verurteilt. Die öffentlich-rechtlichen Fernsehnachrichten reden von einen Präzedenzfall.

Im März 2009, zwei Wochen nach dem Mord von Tatárszentgyörgy, bekamen die Bewohner eines von Roma bewohnten Viertels von Miskolc von der Polizei die Information, daß bei ihnen in der Nacht mit Übergriffen der Ungarischen Garde oder Skinheads zu rechnen sei. Auf polizeiliche Schutzmaßnahmen wollte man sich nicht verlassen; der Polizeipräsident von Miskolc hatte in der Vergangenheit mehrfach geäußert, daß 100% aller Straftaten von Roma verübt würden. (Letzteres sagte der Soziologe Tibor Derdák im ungarischen Fernsehen, gefunden hier.)

Die Bewohner des Viertels bewaffneten sich mit allem, was zur Hand war, bildeten Patrouillen und blieben die ganze Nacht auf, um ihre Familien zu schützen. In diese Panikstimmung hinein verirrte sich ein dunkler PKW im Schrittempo, mit drei Personen darin. Eine Gruppe Anwohner griff den Wagen an, schlugen die Windschutzscheibe ein und bewarfen ihn mit Steinen. Es entstand Sachschaden von etwa 104.000 HUF, zwei der drei Passagiere wurden leicht verletzt.

Jetzt wurden die elf Männer wegen „rassistisch motivierter Gewalt“ zu insgesamt über 41 Jahren Gefängnis verurteilt. Richterin Répássyné Németh Laura sagte in ihrer Begründung, der Übergriff sei klar gegen eine Gruppe von Angehörigen der ungarischen/magyarischen Bevölkerung und die ungarische Nation gerichtet gewesen.

Das Corpus Delicti, das die Sache von Landfriedensbruch und Körperverletzung in die Kategorie „Gewalt gegen eine Gemeinschaft“ erhebt, war ein Stock, den man in der Nähe des Vorfalls gefunden hatte, auf dem angeblich „Tod den Magyaren“ stand.

(Index)

Roma-Bürgerrechtler Aladár Horváth sagt im Video, das Gesetz, das dem Schutz von Minderheiten dienen sollte, wird nun gegen sie eingesetzt. Außerdem schreibt das Urteil fest, daß die ungarischen Roma im eigenen Land nicht mehr als Ungarn gelten.

Das Rechtsschutzbüro für Nationale und ethnische Minderheiten (NEKI) dazu:

Das Urteil des Gerichts von Miskolc zeigt eine Tendenz, die bei vielen den Eindruck erweckt, daß die Behörden mit einem Doppelstandard arbeiten: Bei Angriffen gegen Roma oder Homosexuelle kommt der Paragraph nur mit großer Mühe oder überhaupt nicht zur Anwendung. Werden jedoch „Ungarn/Magyaren“ angegriffen, wird unverzüglich ein Verbrechen gegen eine Gemeinschaft konstatiert. Was noch absurder ist angesichts der Tatsache, daß der Paragraph 174/B des bürgerlichen Gesetzbuches (…) eben aus dem Grund geschaffen wurde, um – unter anderem – gewalttätige, haßmotivierte Übergriffe gegen Roma und andere Minderheitengruppen zu sanktionieren.

Außer dem aktuellen Fall in Miskolc, so NEKI,  läuft derzeit noch ein weiteres Verfahren, in dem Roma aus Sajóbábony (Anm.: Siehe Pester Lloyd und mein Post „Krieg“ in Sajóbábony – Verbot der Gardeuniform“ ) wegen Gewalt gegen Angehörige einer Gemeinschaft angeklagt werden, da sie im November 2009 bei einer Aktion der Ungarischen Garde mit einzelnen Gardisten aneinandergerieten. Während die Polizei die Verfahren gegen die Gardisten seither eingestellt hat, sitzen die Roma nach wie vor in Untersuchungshaft.

„Wenn ich diese Steine werfe, bekomme ich laut aktueller Rechtspraxis anderthalb Jahre, doch diese Leute bekamen fünf oder noch mehr. Ihr Vergehen ist viermal gefährlicher als meines, offensichtlich haben sie diese schweren Haftstrafen bekommen, weil sie Zigeuner sind“ – so der Soziologe Tibor Derdák im ungarischen Fernsehen. (Quelle)

Der Verteidiger der Miskolcer Roma will in Berufung gehen. Die Staatsanwaltschaft auch.

Ihr sind die verhängten Strafen noch nicht hoch genug.

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Zum Vergleich:

Der Jobbik-Abgeordnete Gergő Samu Tamás, der 2008 Polizisten angriff (siehe mein Post) bekam dafür eben 300.000 HUF Geldstrafe und zehn Monate auf Bewährung, ausgeschrieben auf zwei Jahre. (Quelle)

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Links (wird laufend ergänzt):

Ungarisch:

Hirado, DunaTV, Népszabadság, Népszabadság, Origo, c-press/atv

und Blogs: nacikhaza, Commmunity.hu.

Deutsch:

Hungarian Voice: „Amnesty International kritisiert Ungarn im Zusammenhang mit Gewalt gegen Roma“

Pester Lloyd

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(Update 4.3.2011: Und wieder ein ähnlicher Fall aus Budapest: Hungarian Voice: Index.hu: „Insgesamt 29 Jahre Haft für die Worte, die man nicht aussprechen darf“)

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