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Volksentscheid gegen Obdachlose

24. September 2011

Im VIII. Budapester Bezirk  wird es morgen einen Volksentscheid gegen Obdachlose geben. Die Initiative des Fidesz-Bezirksbürgermeisters Máté Kocsis ist ein Testballon für alle Budapester Stadtbezirke und hat die Unterstützung von Fidesz-OB Tarlós (siehe NOL).

Auch für Innenminister Pintér hat das Obdachlosenproblem große Priorität, und dieser Volksentscheid ist für ihn ein Indikator dafür, „ob wir auf einem guten Weg sind oder nicht.“ (HVG)

Zur Abstimmung kommen drei Fragen (sinngemäß):

  1. Unterstützen Sie das Verbot des Bezirksrates, in Mülltonnen zu wühlen (Anm.: bei Zuwiderhandlung 50 000 HUF Strafe (derzeit ca. 173 EUR).  TASZ hält dieses Verbot für verfassungswidrig.)
  2. Unterstützen Sie das Verbot des Bezirksrates, auf öffentlichem Gelände des Bezirks zu wohnen (Anm.: bei Zuwiderhandlung derzeit 50.000 HUF Strafe, geplant sind 150.000 HUF. Dieses Verbot hält der Ombudsmann für verfassungswidrig, siehe TASZ.)?
  3. Unterstützen Sie, daß der Bezirksbürgermeister (…) Verhandlungen mit der Stadt aufnimmt, um die Situation der Obdachlosen zu verbessern und den Bezirk (…) zu entlasten?

Letztendlich ist das ein Plebiszit zur Kriminalisierung von Obdachlosen. Laut TASZ werden hier gerade die rechtlichen Voraussetzungen für ihre Inhaftierung geschaffen. Denn die Betroffenen können so hohe Geldstrafen nicht aufbringen, und wer nicht zahlen kann, kommt ins Gefängnis.

Frage 3. bezieht sich auf eine zukünftige zentrale Lösung des Obdachlosenproblems, wohl über das Innenministerium wie schon das sogenannte „Gemeinnützige Beschäftigungsprogramm“ (siehe mein Post).

Der Volksentscheid ist gültig, wenn mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten teilnimmt, und hat ein Ergebnis, wenn mehr als die Hälfte der Wähler auf die Fragen dieselbe Antwort gibt. Bleibt der Volksentscheid ergebnislos, entscheidet die Bezirksversammlung.

(Kurzupdate 26.9.: Der Volksentscheid blieb wegen zu geringer Teilnahme (16%) ergebnislos. Das bedeutet, daß die Entscheidung an die Bezirksversammlung zurückfällt. Und entschieden wurde bei 1 und 2 über Verordnungen, die bereits gültig sind. Was den Volksentscheid generell sowie Punkt 3 angeht, hat Máté Kocsis angekündigt, im Sinne von fast 10 000 Bürgern (die mit Ja gestimmt haben), zu handeln (Galamus/MTI). Das heißt, der Volksentscheid als PR-Maßnahme ist wegen der generellen politischen Apathie zwar gefloppt, aber die Bezirksversammlung kann und wird mangels Protesten nach Plan weitermachen. (Die MSZP des Bezirks hatte zum Boykott des Volksentscheids aufgerufen – das war hier meiner Ansicht nach kontraproduktiv.)

(Noch ein Update, 26.9.: Kocsis kündete heute eine groß angelegte 24h-Aktion von Polizei und Ordnungsamt im Bezirk an, „zur Zurückdrängung und Verhinderung von Ordnungsverstößen“, sprich Obdachlosenrazzia, s. Seite der Bezirksversammlung. Überschrift: „Gerecht, hart, aber menschlich“. Dort heißt es auch, „mit der Ermächtigung durch fast 10 000 Bürger“ werde der Bezirk Verhandlungen mit der Stadt beginnen. Sprich, sie machen weiter, als wäre der Volksentscheid gültig.)

Populistische Hetze aus dem Bezirksrathaus – verkauft als „direkte Demokratie“

In den letzten Wochen wurden die Einwohner des VIII. Bezirks mit Postwurfsendungen des Fidesz-Bezirksrates beschickt, und an den wichtigsten Verkehrspunkten standen BezirksvertreterInnen und brachten Informationsmaterial unters Volk.  Dieses warb ausgesprochen einseitig für die „Einführung der direkten Demokratie“:

Dreimal Ja für einen blühenden Bezirk statt Zerstörung und Verfall durch Obdachlosenheere: Das offizielle Plakat zum Volksentscheid, finanziert aus Steuergeldern.

Laut Fidesz-Bezirksbürgermeister Máté Kocsis geht es hier nicht um Parteipolitik, sondern um das allgemeine Wohl, und diese wichtige Frage soll vom Volk entschieden werden, „um ihre parteipolitische Instrumentalisierung zu verhindern“ (Józsefváros, Gratismagazin des VIII. Bezirks, XIX Jg. Nr. 16, 20. Sept. 2011, S.2).

MSZP und LMP des VIII. Bezirks hatten sich allerdings scharf gegen den Volksentscheid ausgesprochen, siehe LMP, MSZP8ker.

Offensichtlich hat Fidesz das Definitionsmonopol für das „allgemeine Wohl“, und schafft trotz der Krise und sinkender Wählerunterstützung immer noch, „das Volk“ zum „Zusammenhalt“ zu mobilisieren und auf einen gemeinsamen Gegner einzuschwören. Darum scheint es hier unter anderem zu gehen.

Denn um die Wähler zur Teilnahme zu motivieren, werden Feindbilder und Bedrohungszenarien beschworen:

In der Josephstadt leben 2700 Obdachlose. Voraussichtlich werden viele von ihnen wählen gehen, um ihre Lebensweise zu schützen. Die Lebensform, die unsere Straßen und Plätze für die Bewohner der Josephstadt unbenutzbar macht (…). Die Josefstadt gehört den Josefstädtern. Uns allen, die wir täglich etwas für den Bezirk  tun, und die wir täglich aufs Neue feststellen müssen, daß das, was wir bis zum Abend aufbauen, bis zum Morgen wieder von ihnen zerstört wird. Entscheiden wir jetzt über unsere Stadt, denn jetzt ist es möglich und nötig.
(Józsefváros, Gratismagazin des VIII. Bezirks, XIX Jg. Nr. 16, 20. Sept. 2011, S.2)

Auf einem Flugblatt, das ebenfalls in jedem Briefkasten des Bezirks landete,  schreibt Kocsis:

Sie müssen wissen, daß wir Ordnungsbeamte, Bezirkswächter, Polizisten und Reinigungspersonal nicht in ausreichender Anzahl abbestellen können, um die in den Bezirk strömende Obdachlosengesellschaft in Schach zu halten. Es kann nicht erwartet werden, daß das  Obdachlosenproblem des Landes zum Großteil von der Josefstadt gelöst wird. Wir wollen Ihre Steuerforints nicht für die einwandernden Obdachlosen ausgeben, sie haben ihren Platz bei neuen Parkanlagen, Gebäude- und Straßensanierung, dafür, unseren Bezirk lebenswert zu machen.
Wenn wir uns die Frage stellen, Verfall oder ein florierender Bezirk? Abwohnen oder Bewohnen? (…) – wofür entscheiden Sie sich? Am 25. September halten wir einen Volksentscheid im Interesse des Schutzes unserer Straßen und Plätze (…) ab.
Wir entscheiden über die Zukunft der Josefstadt. Unterstützen Sie uns dabei, die unsäglichen Zustände zu beenden, unseren öffentlichen Raum zu bewahren und den Josefstädtern zurückzugeben!
Gehen wir zur Wahlurne und sagen wir dreimal Ja. Ja zur Ordnung, Ja zur Entwicklung, und Ja dazu, daß die Josefstadt den Josefstädtern gehört!

Könnte direkt von Jobbik sein.

(Quelle hier, zum Vergrößern anklicken.)

Die aufwendige Propagandakampagne ließ der Bezirk sich Einiges kosten.  Laut Informationen des LMP- Parlamentsabgeordneten Gábor Vágó gibt der VIII. Bezirk derzeit  „700.000 HUF für die Versorgung von Obdachlosen, 7 Mio. HUF für Zwangsräumungen und 30 Mio HUF für Volksentscheide aus“ (Origo).

Es regt sich Protest

Es ist zu erwarten, daß der Volksentscheid im Sinne der Erfinder ausgehen wird. Trotzdem war im Vorfeld Protest zu sehen. Eine gelungene Aktion der Spaßpartei Kétfarkú Kutya Párt, inzwischen leider abgebaut: „Bezirksgefängnis 2013“ (zum Vergrößern anklicken).


Text Tafel unten links:

„Monatliche Kosten für die Unterbringung eines Obdachlosen:
Im Gefängnis 240 000 HUF
In der Obdachlosenunterkunft 40 000 – 100 000 HUF
Wohngeld 25 000 HUF
Was lohnt sich für uns Staatsbürger eher?“

Rechts:

„Die Bezirksversammlung will Menschen, die auf der Straße leben, eine Geldstrafe von 50 000 HUF auferlegen. Wenn sie nicht zahlen können, kommen sie ins Gefängnis.“

Zu der Aktion siehe auch 8ker.blog.hu und mkkp.hu.

Flugzettel:
„Hetze gegen eine Gemeinschaft? Dreimal Nein für den kleinen Fideszkönig“ (Mitte), „Der Staatsterror wirft die Armen auf den Müll“ (Unten)

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Karikatur aus der Népszabadság: „Na also. Das Straßenbild hat sich schon sehr verbessert.“

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