Proteste gegen Nazi-Denkmal, 3. Woche: Polizei räumt

Nachdem der Weiterbau des Denkmals letzte Woche einige Tage effektiv gestoppt werden konnte, wurde die Baustelle am 29.4. mit großem Polizeiaufgebot geräumt (Fotos). Die Demonstranten machen trotzdem weiter.
Update zu den Posts
- Ungarn baut Nazi-Besatzungsdenkmal, 9. April 2014
- Nazi-Besatzungsdenkmal: Proteste und Polizeischikane, 11. April 2014
- Protest gegen Nazi-Besatzungsdenkmal, Tag 4: Weitere Vorladungen, 12. April 2014
- Protest gegen Nazi-Besatzungsdenkmal, Tag 5: Anzeigen mit Eilverfahren, 15. April 2014
- Proteste gegen Nazi-Denkmal, Tag 6/7: Vorladung am Holocaust-Gedenktag, 17. April 2014
ARD titel thesen temperamente: Das Denkmal auf dem Freiheitsplatz in Budapest, Sendung vom 27.04.14:
Jeden Tag um 18 Uhr kämpft in Budapests Zentrum ein Häuflein Aufrechter um die Deutung der Geschichte. Ein Kampf mit ungleichen Mitteln, denn die vornehmlich älteren Männer und Frauen demontieren nur den Bauzaun am Regierungsdenkmal und legen Blumen und Bilder ab. Die Baustelle dieses Monuments staatlicher Erinnerungskultur bleibt unberührt.
Ungarn als Opfer von Nazi-Deutschland?
Mit dem sieben Meter hohen Denkmal auf dem Freiheitsplatz will die Regierung an die Besetzung durch die Wehrmacht im März 1944 erinnern: Ein aggressiver deutscher Reichsadler stürzt sich auf den Erzengel Gabriel, der das unschuldige Ungarn symbolisiert. Diktatorenkitsch und Geschichtslüge, sagen die Demonstranten. Denn Ungarn war kein Opfer. Im Gegenteil, man hat an der Seite der Nazis im Zweiten Weltkrieg gekämpft und mit großem Eifer bei der Deportation von 430.000 ungarischen Juden nach Auschwitz geholfen.Daran erinnern die Denkmalgegner, auch mit Bildern der ermordeten Juden.
Die Polizei greift nicht ein. Sie filmt nur, zum Zweck der späteren Verfolgung. Alice Fried wurde wegen Sachbeschädigung angezeigt, weil sie an den Bauzaun schrieb „Ich habe die Shoa überlebt, ich will noch weiter leben“. Dieses Leben verdankt sie ihrer Großmutter. Die versteckte die zweijährige Alice in einem Rucksack, als ungarische Nazikollaborateure 1944 ins Ghetto kamen, um die Juden nach Auschwitz zu deportieren.Alice Fried, Holocaust-Überlebende:
»Die Juden in Ungarn haben Angst davor, dass die alten Zeiten zurückkommen. Die Regierung macht eine Politik wie die Neonazis von der rechten Partei Jobbik. Ich trage an einer Kette den Davidstern um den Hals. Freunde haben mir schon geraten ihn abzunehmen, damit ich auf der Straße keinen Ärger bekomme. Am liebsten wäre der Regierung eine Diktatur, damit niemand mehr kritische Fragen stellt.«
Ungarn interpretiert seine Rolle in der Geschichte neu. Der regierungsamtliche Opfermythos ist Basis für den Nationalismus im Land. Blut und Heimat seien die verbindenden Werte aller Ungarn, verkündet Ministerpräsident Orban. Vor der Kamera allerdings wollte sich kein Regierungsvertreter zum Denkmal äußern. Nur der ehemalige Staatssekretär und Historiker Ernő Raffay verteidigt es.
Ernő Raffay, ehemaliger Staatssekretär und Historiker:
»Ich denke, die Holocaustüberlebenden sind einfach zu empfindlich. Ich verstehe das Leid der Opfer, aber man kann nicht immer so leben. Wir haben jetzt neue Verhältnisse. Die Opfer bekommen immer, was sie wollen. Sie sollen in Frieden leben, aber lasst uns jetzt dieses Denkmal errichten.« (…)
Polizei räumt
Nachdem der Weiterbau des Denkmals letzte Woche einige Tage effektiv gestoppt werden konnte und am Sonntag der Holocaust-Gedenkmarsch „Marsch der Lebenden“ mit über 10 000 Teilnehmern stattfand, wurde die Baustelle am 29.4. mit großem Polizeiaufgebot geräumt, einige Demonstranten herausgegriffen und wegen Ordnungswidrigkeit angezeigt, vgl. europe online: Ungarns Polizei beendet Proteste gegen Nazi-Besatzungsdenkmal.
Sie machen trotzdem weiter. Ihre nächste Aktion ist für heute um 18 Uhr angekündigt.
(Die Holocaustüberlebende Alice Fried wird abgeführt, rechts Co-Organisatorin Andrea Zoltai. Magyar Narancs.)
Die Demonstrierenden waren auf die Räumung vorbereitet, so Magyar Narancs, bemängelten aber, dass die Notarin des V. Bezirks ihnen keinen Räumungsbeschluss vorlegte; in diesem Fall hätten sie die Baustelle freiwillig verlassen. Doch so bezeichnete Co-Organisatorin Andrea Zoltai das Vorgehen der Polizei als rechtswidrig. „Für 15-20 Demonstranten – darunter etliche ältere Menschen und mehrere Holocaust-Überlebende – schickten sie mehrere Dutzend Polizisten. Und das, obwohl wir keine Ordnungswidrigkeit begangen, sondern lediglich im Rahmen unserer staatsbürgerlichen Rechte protestiert haben. Ich fasse es einfach nicht, wie sie Menschen, die vor siebzig Jahren unsagbar Schreckliches erlebt haben, in eine so demütigende Situation bringen können.“
Die Demonstranten wollen wegen der Räumung rechtliche Schritte ergreifen. (Magyar Narancs)
(Update: Die Notarin des V. Bezirks, Edina Rimán, die den Polizeieinsatz „zum Schutz des Eigentums“ des Bezirks anordnete, hat keinen Abschluss in Jura. Sie ist seit 2012 im Amt; zuvor war sie Büroleiterin und 2010-2012 Vizebürgermeisterin von Máté Kocsis (Fidesz, früher Mitglied der rechtsextremen MIÉP) im VIII. Budapester Bezirk, s. Magyar Narancs. In ihre Amtszeit fiel der Bürgerentscheid gegen Obdachlose im VIII. Bezirk, s. Post.)
Organisatorin Fruzsina Magyar
Der Freiheitskämpfer von 1956 und ehemalige Abgeordnete Imre Mécs, 80, wird weggetragen. Er bekam Applaus und Sprechchöre „Demokratie!“
Co-Organisatorin Andrea Zoltai (Bilder: Magyar Narancs)
Mihály Rózsa, ebenfalls wegen Sachbeschädigung angezeigt (Facebook)
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