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Interview mit German Foreign Policy

21. Mai 2014

Das folgende Interview erschien am 21.5.2014 auf German Foreign Policy.

german-foreign-policy.com: Bei den Parlamentswahlen im April hat die faschistische Partei Jobbik dazugewonnen und mehr als 20 Prozent erreicht. Hat Sie das überrascht?
Pusztaranger: Das war abzusehen, und die Europawahl dürfte ähnlich ausfallen. Laut Prognosen ist Jobbik derzeit zweitstärkste Partei, und laut einer Umfrage vom April ist Gábor Vona der beliebteste Oppositionspolitiker.
gfp.com: Der Fidesz von Ministerpräsident Viktor Orbán hat fast acht Prozent verloren. Sinkt in Ungarn die Zustimmung zu seiner Politik?Pusztaranger: Fidesz hat etwa 600.000 Stimmen weniger bekommen als 2010, aber dank des maßgeschneiderten neuen Wahlgesetzes bedeutet das genauso viel Prozent der Mandate wie 2010 und damit die Zweidrittelmehrheit. 2010 brachten 52,73 Prozent der Stimmen 67,88 Prozent der Mandate ein, 2014 reichten 44,61 Prozent der Stimmen für 66,83 Prozent der Mandate. Jobbik war in 41 der 106 Wahlkreise zweitstärkste Partei – und nicht mehr nur im armen Nordosten, sondern im ganzen Land. Das hat zum Teil damit zu tun, dass das linksliberale Wahlbündnis nicht genügend Wähler überzeugen konnte und Jobbik sich als nationale Opposition und Alternative zu Fidesz präsentiert. Außerdem sind die Themen, in denen sich gesellschaftlicher Protest gegen größere politische und ökonomische Zusammenhänge artikuliert – Kapitalismus- und Globalisierungskritik, Ökologie etc. -, in Ungarn überwiegend „national“ bzw. rechtsextrem besetzt: Die „liberale“ EU, Amerika und das internationale („jüdische“) Finanzkapital wollten Ungarn vernichten, wird da behauptet. Mit der Mobilisierung zum nationalen Widerstand bzw. Freiheitskampf gegen den äußeren und inneren Feind operieren sowohl Fidesz als auch Jobbik. Das Wahlergebnis zeigt, dass Fidesz eben nicht das Bollwerk gegen Jobbik ist, wie man es das Ausland glauben machen will.

gfp.com: Nach seinem Wahlsieg 2010 hat Orbán eine völkisch-nationalistische Politik betrieben, die im Ausland teils auf große Kritik gestoßen ist. Wenn Sie auf die vergangenen vier Jahre zurückblicken – welche Zwischenbilanz würden Sie zu Beginn von Orbáns zweiter Amtszeit ziehen?

Pusztaranger: Es ist seine dritte Amtszeit – er hat ja schon 1998 bis 2002 regiert. Die letzten vier Jahre waren seine Machtergreifungsphase, in der er Fidesz zum Staat gemacht, politischen und gesellschaftlichen Widerstand zerschlagen und seine Oligarchen in Position gebracht hat. Jetzt folgt die gesellschaftliche und wirtschaftliche Konsolidierungs- und Expansionsphase. Wo das hinführt, wird man sehen, aber es gibt klare Anzeichen: Seit 2014 begreift sich der ungarische Staat als politische Vertretung der „ganzen ungarischen Nation“, der grenzübergreifenden ethnisch-kulturellen Gemeinschaft der Magyaren. Während Jobbik eine Volksabstimmung zum EU-Austritt anstrebt, spricht Fidesz davon, „die ganze Nation in die EU hineinzuholen“. So forderte Orbán in seiner Antrittsrede vor dem Parlament am 10. Mai die Autonomie und die doppelte Staatsbürgerschaft für die ethnischen Ungarn in der Ukraine (was Jobbik bereits im März getan hat): Trotz der angespannten Lage sei jetzt vor den ukrainischen Präsidentschaftswahlen der richtige Zeitpunkt da, um Ungarns Erwartungen an die neue Ukraine anzumelden. Noch bleibt es aber bei bloßer Rhetorik, um die EU nicht zu vergrämen. Unter dem Motto „Vereinigung der Nation“ hat Fidesz 2014 allerdings erstmals Kandidaten aus den Nachbarländern Ukraine, Serbien und Slowakei in die Liste für die Europawahlen aufgenommen. Gleichzeitig rekrutiert die ungarische Regierung in den Nachbarländern weiter ungarische Neubürger, bis 2018 sollen es eine Million werden.

gfp.com: Ist das nicht vor allem Wahltaktik? Orbáns Fidesz hat ja bei der Wahl unter den „Auslandsungarn“ mehr als 95 Prozent der Stimmen erzielt.

Pusztaranger: Wobei von den Neubürgern längst nicht so viele gewählt haben, wie man sich das erhofft hatte. Nein, es geht Orbán nicht nur darum, Fidesz kurzfristig Wählerstimmen zu sichern, den demografischen Niedergang aufzuhalten oder innenpolitische Probleme zu kompensieren. Dazu werden zu viel Energie und Steuergelder in die politische Vision der „tausendjährigen christlichen Nation“ – die nicht in den heutigen Grenzen bestand – und den Ausbau der ungarischen Wirtschaft im Karpatenbecken investiert. Es ist interessant, sich den Abschnitt zu den Auslandsungarn im Jobbik-Wahlprogramm von 2010 anzuschauen; darin wurde der ungarische Staat als politische Vertretung aller ethnischen Ungarn bezeichnet, die doppelte Staatsbürgerschaft und Wahlrecht für die Auslandsungarn gefordert, ebenso der Ausbau der wirtschaftlichen Präsenz im Karpatenbecken – also ethnisch basierte Wirtschaftsförderung in den Nachbarländern etc. Das alles ist vom Fidesz inzwischen größtenteils umgesetzt worden. Fidesz und Jobbik stehen für ein „Europa der Nationen“, wobei der Begriff der „ungarischen Nation“ nicht deckungsgleich mit dem Staat, sondern völkisch verwendet wird. Das ist keine konservative Position im Sinn der EVP, sondern ähnelt dem Begriff der „Volksgemeinschaft“ der NPD als „Gemeinschaft von Geschichte, Kultur und Abstammung“. Fidesz und Jobbik betrachten das Karpatenbecken – nicht jedoch die westlichen Teile des historischen Großungarn, Kroatien, Slowenien, das Burgenland – als ihren geopolitischen Aktionsraum, in den sie seit Jahren ihren hausgemachten völkischen Nationalismus exportieren und damit die politische Spaltung der Auslandsungarn betreiben – denn nicht alle Auslandsungarn, die Autonomie fordern, vertreten diese nationalistische Linie.

gfp.com: Stimmen Fidesz und Jobbik darin wirklich überein?

Pusztaranger: Komplette Übereinstimmung würden die beiden Parteien mit Nachdruck bestreiten. Fidesz ist laut Jobbik nicht konsequent genug, und Jobbiks Ziele sind laut Fidesz in dieser Radikalität nicht mehrheitsfähig, nicht realistisch umsetzbar und daher kontraproduktiv („mit dem Kopf durch die Wand“). Den wesentlichen Unterschied zwischen Fidesz und Jobbik hinsichtlich dieser politischen Vision sehe ich in der Radikalität bzw. Taktung bei der Umsetzung – hier radikale völkische Fundamentalisten mit paramilitärischen Gruppen im Rücken, dort völkische Realos mit langfristigen Plänen, einem eigenen Staat, den nötigen Wirtschaftsakteuren und internationalen Verbündeten, und natürlich den EU-Geldern. Mittelfristig bleibt Orbáns Ungarn der Fördergelder wegen in der EU und lässt sie für sich arbeiten, indem das Projekt der „Wiedervereinigung der Nation“ als EU-konforme Regionalisierung verkauft wird. Die Frage ist aber, wie sich Ungarns Beziehung zu Russland („Ostöffnung der ungarischen Wirtschaft“) und die Autonomiebestrebungen der von Orbán politisch, ideologisch und finanziell unterstützten Parteien und Organisationen der Auslandsungarn bis zum 100-jährigen Trianon-Jubiläum 2020 entwickeln werden.

gfp.com: Wie stark ist in Ungarn die Opposition gegen Orbáns völkische Politik?

Pusztaranger: Die zerstrittene demokratische Opposition war 2014 keine Alternative, und ich meine, sie hat bis auf wenige Ausnahmen keinen Begriff von der Dimension des Problems. Der Wähler trifft seine Wahlentscheidung für Orbán nicht aufgrund eines Wahlprogramms oder einer reflektierten Abwägung politischer Inhalte. Orbán hatte 2010 kein Wahlprogramm, auf das er sich vier Jahre festlegen und an dessen Umsetzung er sich vom Bürger messen lassen müsste, und er hatte auch 2014 keines. Man wählte populistische Wahlversprechen – zentral war die Senkung der Nebenkosten -, aber vor allem wählte der Durchschnittsbürger einen Glauben, die nationale Vision, den „nationalen Freiheitskampf“. Ihre politischen Entscheidungen legitimiert die Regierung durch die neue Institution der „nationalen Konsultation“ per Briefumfrage an die Wahlbürger und durch die „Friedensmärsche“, die Massenmobilisierung der Regierungsanhänger auf der Straße.

gfp.com: Was ist die „nationale Konsultation“?

Pusztaranger: Institutionalisierter Populismus. Man bekommt seit 2010 etwa einmal im Jahr per Post einen persönlich adressierten Fragebogen von Viktor Orbán zu aktuellen politischen Fragen, unter anderem zum Inhalt der neuen Verfassung und zu Fragen der Sozial-, Arbeits- und Rentenpolitik. So wurde 2011 gefragt, ob der Staat den Arbeitslosen Geld oder Arbeit geben solle; 2012 wurden die berüchtigten öffentlichen Beschäftigungsprogramme unter dem Mindestlohn eingeführt – kein Geld mehr vom Staat ohne Arbeit („arbeitsbasierte Gesellschaft“). Seit 2013 werden auch die Neubürger im Ausland in die „nationale Konsultation“ einbezogen. Nach Medienberichten schicken nur etwa ein Siebtel der Befragten den Fragebogen zurück, aber mit den Ergebnissen werden politische Entscheidungen legitimiert. Das verschlingt Unsummen, für dieses Jahr sind dafür im Haushalt 1,5 Milliarden Forint vorgesehen.

Aber zurück zur Opposition. Die macht bloße Politik. Doch „Politik“ ist für Orbán-Anhänger die als bloßes Gezänk diskreditierte Aktivität der als „Extremisten“ diffamierten linksliberalen Opposition. Orbán hingegen macht keine „Politik“, sondern agiert im Namen der tausendjährigen christlichen Nation, also quasi im Namen Gottes – seine Einführungsrede vor dem Parlament beendete er mit „Soli deo gloria“. Dem haben die als Handlanger der „liberalen“ EU diffamierten Linksliberalen mit ihren Forderungen nach Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nichts gleichermaßen Überzeugendes entgegenzusetzen. Zivilgesellschaftliche Proteste der letzten vier Jahre, die zunächst viele Menschen mobilisieren konnten, sind immer wieder verpufft bzw. werden durch Orbáns „Friedensmärsche“ relativiert – Orbáns staatlich gesponserte nationale „Zivilgesellschaft“ kann jederzeit mehr Anhänger mobilisieren als jede andere Partei oder Bürgerinitiative. Derzeit, seit über einem Monat, wird auf dem Budapester Freiheitsplatz kontinuierlich und mit Mut und Zivilcourage gegen das geschichtsverfälschende Denkmal protestiert, das an die deutsche Besatzung erinnern soll. Aber das ist ein Grüppchen von Leuten, die nichts zu verlieren haben. Die breite gesellschaftliche Unterstützung ihres Protests bleibt aus, weil die Leute mittlerweile Angst haben, sich politisch zu exponieren und ihre Jobs zu verlieren.

gfp.com: Die Diskrimierung der Roma in Ungarn hat zeitweise europaweit für Schlagzeilen gesorgt. Hat sich ihre Situation inzwischen verbessert?

Pusztaranger: Es wird immer über die Roma geredet und so gut wie nie mit ihnen, dabei gibt es ungarische Ansprechpartner. Ich empfehle ein eigenes Interview mit dem Bürgerrechtler Aladár Horváth. Aber generell gilt: Die Konsolidierung der „nationalen Mehrheitsgesellschaft“ funktioniert über die Umverteilung öffentlicher Mittel, über Ausgrenzung und Sündenböcke. Orbáns „Zwei-Drittel-Staat“ agiert und legitimiert sich im Namen der „Mehrheit“, und der Rest kann schauen, wo er bleibt. Die Gesellschaft war schon vor 2010 polarisiert und gespalten, aber seither wird das von Fidesz ideologisch, politisch und wirtschaftlich immer weiter forciert. Jetzt ist Fidesz der Staat, und langfristig scheint die Strategie zu sein, keine öffentlichen Gelder, Aufträge und EU-Mittel mehr für Unternehmen, Personen, Medien, Institutionen und NGOs zu verwenden, die nicht zur Fidesz-Familie gehören. Da gehen gesellschaftliche Strukturen und Existenzen kaputt.

Für bestimmte Gruppen im unteren Drittel („unverschuldet in Not geratene magyarische Familien“) ergreift Jobbik Partei, etwa für die kleinen Bauern, denen vom Nationalen Bodenfonds zugunsten von Fidesz-Agrarunternehmern das Pachtland und damit die Existenzgrundlage entzogen wird, und die zwangsgeräumten kleinen Devisenschuldner, die auf der Straße landen. Ansonsten sammelt sich im unteren Drittel dieser „national“ und „christlich“ ausgerichteten Gesellschaft mit der Zeit ein breites Spektrum von Unerwünschten und Überflüssigen: Oppositionelle Journalisten, die wegen des politisch forcierten oppositionellen Mediensterbens keine Jobs mehr finden; Nachkommen von Holocaust-Überlebenden, die gegen die geschichtsverfälschende Erinnerungspolitik der Regierung im Holocaust-Gedenkjahr protestieren und deswegen von der Polizei schikaniert werden; die Alten mit geringer Rente; die Behinderten, chronisch Kranken und Invaliden; die Arbeits- und Obdachlosen; diejenigen, deren Lebensweise mit dem offiziellen Familienbild unvereinbar ist, also außer den Homosexuellen auch unverheiratete Heteropaare und Alleinerziehende; und vor allem die Roma als größte Minderheit, die besonders auf dem Land ohne Jobs und Infrastruktur schon seit der Wende massenhaft verelenden – alles Bürger zweiter Klasse, mit deren Ausgrenzung, sozialem Abstieg und Verelendung die eigenen Leute bei Linie gehalten werden und an denen die Staatsmacht sozial- und ordnungspolitische Exempel statuiert bzw. rechtsextreme Übergriffe – „Ordnung und Sicherheit“ durch „national gesinnte“ Bürgerwehren – duldet. Wer kann, sucht sein Glück im Ausland; für alle anderen wird es unter der dritten Orbán-Regierung noch härter werden.

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